Von der Kunst, in sich zu ruhen
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Als Franz von Assisi einmal eine Wiese mähte, kam einer seiner Glaubensbrüder auf ihn zu und fragte: "Was würdest du tun, wenn du nur noch eine Stunde zu leben hättest?" "Weitermähen", antwortete Franz seelenruhig.
Seelenruhig – von diesem Adjektiv geht etwas Wärmendes aus, weil es zusammenbringt, was offensichtlich zusammengehört. Menschen sehnen sich nach diesem Zustand und erreichen ihn doch selten. Ein Mensch, gesegnet mit der Gabe der Seelenruhe, damit ist wohl das In-sich-Ruhen gemeint, ein solcher Mensch ist von einer wohltuenden Aura umgeben, er zieht andere an.
Vieles beschwert das Leben
Was hat er, was die meisten anderen nicht haben? Warum kam die Seelenruhe so vielen Menschen abhanden, war sie überhaupt jemals da? Das sind schwierige Fragen, der Versuch einer Annäherung führt zurück zu den Anfängen: Die Bibel erzählt vom Sündenfall des Menschen: Arbeit, Mühsal und vielerlei Begierden beschweren seither das Leben auf Erden – und zunehmen Hektik und Stress. Goethe, Schopenhauer, Nietzsche haben sie kommen sehen, die rasante Beschleunigung. "Das Wesen des Dämons ist die Ungeduld, die Rastlosigkeit", sagt Mephisto in Goethes Faust. Aber ist es allein der hektische Alltag, der das In-sich-ruhen verhindert? Womöglich sind auch Temperament und Tempo eines Menschen verantwortlich oder einfach sein nervöser Charakter.
Beinahe jeder Sterbliche hat sie schon einmal an sich erfahren: Augenblicke des totalen In-sich-Ruhens, des Friedens mit sich und allen anderen, ja, das Einverstandenseins. Und wer es einmal erlebt hat, sehnt sich danach ein Leben lang.
Es scheint, dass im Einverstandensein, in der Annahme des Lebens als Ganzes, das eben nicht bloß Dauerbespaßung, sondern auch Mühsal und Leid bereithält, ein Schlüssel liegt. Dann würde das In-sich-Ruhen bedeuten, Widerstände aufzugeben gegen den Gang der Welt, gegen die Zumutungen des Lebens. Es würde bedeuten, scheinbare Sicherheiten loszulassen, quälende Ambitionen und das Habenwollen, aber auch die fatalen Folgen der inneren Unruhe: Schwatzhaftigkeit, Konkurrenzdenken und Lebensgier. Es würde bedeuten, abzulassen von den permanenten Zerstreuungen des Alltags, stattdessen die eigene, innere Stimme immer deutlicher wahrzunehmen, ihr beherzt zu folgen und sich Gott und seiner Schöpfung anzuvertrauen.
Ein Tier in freier Wildbahn ruht in sich selbst, weil es einfach im Sein ist, eins mit dem Leben. Ruhe braucht der Angler, braucht der Bogenschütze, um im rechten Augenblick ganz im "Sein" zu sein und nirgendwo sonst.
Voraussetzung für christliche Tugenden
Sich hinabsenken in das eigene Wesen schafft innere Distanz, schafft Abgeklärtheit. Meditationsforscher und Psychologen sehen im Zur-Ruhe-kommen die Voraussetzung für christliche Tugenden wie Mitgefühl und Nächstenliebe. Und liegt es nicht in der Natur des Herzens, Polaritäten zusammenzubringen, nicht zu urteilen und zu bewerten?
Im Alltag kann es helfen, ganz gegenwärtig zu sein. Was nichts anderes ist als das zur Ruhe kommende Chaos im Kopf. Präsenz heißt, entspannt und gleichzeitig wach zu sein. Auch der temporäre Rückzug in die Stille, ins Schweigen, regelmäßige geistige und körperliche Entspannung unterstützen den Weg zu einem unerschütterlichen Selbstvertrauen in die eigene Ruhe und Kraft. Wer es fertigbringt, in sich zu ruhen, kann mit einiger Gelassenheit der größten Herausforderung überhaupt begegnen: der Angst vor dem Sterben – wie Franz von Assisi es offensichtlich vermochte.
Die Autorin
Brigitte Haertel ist Redaktionsleiterin von "theo – Das Katholische Magazin".Hinweis: Der Artikel erschien zuerst im "theo"-Magazin.