Was macht einen guten christlichen Gottesdienst aus?
Sieht es die Liturgie wirklich vor, dass die Braut bei ihrer Trauung vom Brautvater zum Altar geführt wird? Segnungsgottesdienste am Valentinstag? Es gibt Elemente im Gottesdienst, in denen sich der Einfluss der Gegenwart deutlich zeigt. Grundsätzliches der Liturgie bliebe erhalten, aber das Verständnis und die Ausgestaltung verändere sich, sagt Benedikt Kranemann, Professor für Liturgiewissenschaft an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Erfurt. Ein Interview.
Frage: Herr Kranemann, wie ist unsere Liturgie entstanden?
Kranemann: In den Anfängen des Christentums haben sich kleine Gruppen von Christen versammelt, um gemeinsam das zu feiern, was wir heute Eucharistie nennen. Diese hatte aber unterschiedliche Formen. Es ging darum, gemeinsam Gottes Wort zu hören, also biblische Texte zu lesen, und das eucharistische Mahl zu halten. Früh begegnet uns die regelmäßige Versammlung am Sonntag. Besonders hervorgehoben wird noch einmal ebenfalls relativ früh das Osterfest. Eine große Rolle spielten dabei Gemeinschaft und Regelmäßigkeit. Das war wichtig für die Identität der Christen. Mit ihrem Christusbekenntnis haben sie sich von ihrer religiösen Umwelt unterschieden.
Frage: Gab es in der frühen Kirche auch andere Liturgien als das, was wir heute als Eucharistie kennen?
Kranemann: Ja, die Taufliturgie war schon bekannt, auch für sie gab es unterschiedliche Gebete und Riten. Und wenn wir auf die biblischen Texte schauen, lesen wir im Jakobus-Brief etwas darüber, was wir heute Krankensalbung nennen. Wir können zudem davon ausgehen, dass es auch schon früh vom Christusbekenntnis her gedeutete Begräbnisriten gegeben hat. Es gab also Gottesdienste, die zu verschiedenen Stationen des Lebens stattfanden wie die Taufe als Aufnahme in die Kirche – mehrheitlich wurden Erwachsene getauft –, oder Gebet in ernsthafter Krankheit, Es gab Gottesdienste zu einzelnen Zeiten von Woche und Jahr. Daneben beteten die Gläubigen, Männer wie Frauen, zu bestimmten Tageszeiten – sie kannten also das, was wir heute Tagzeiten- oder Stundenliturgie nennen würden. Vieles ist dabei unter dem Einfluss der religiösen Umwelt entstanden, bekam aber dann eine neue, spezifisch christliche Interpretation.
Frage: Hat die gesellschaftliche Umwelt auch später noch Einfluss auf die Liturgie gehabt?
Kranemann: Wir haben Elemente im Gottesdienst, in denen sich der Einfluss der Gegenwart ausdrückt, beispielsweise im Bereich der Musik oder des Kirchenbaus. Es gibt auch Gottesdienstformen, bei denen man merkt, dass sich etwas unter dem Einfluss des gesellschaftlichen Umfelds ändert. Ein Beispiel sind heute die Segnungen am Valentinstag. Junge und alte Paare, die sehr unterschiedlich leben, können an einem speziellen Gottesdienst mit Segnung teilnehmen. Das ist etwas, das im zeitgenössischen Kontext entstanden ist und mit dem Wandel heutiger Partnerschaftsvorstellungen zu tun hat. Andererseits kennen wir auch Trauungszeremonien, in denen zur Eröffnung der Brautvater die Braut in die Kirche einführt. Das ist etwas, das deutlich unter dem Einfluss von amerikanischen Spielfilmen steht. Viele kritisieren zu Recht, dass das heutigen Frauen- und Rollenbildern widerspricht. Der kulturelle Einfluss kann also sehr unterschiedlich wirken.
Frage: Wie sieht es in den normalen Sonntagsgottesdiensten aus?
Kranemann: Auch hier lässt sich sehr Unterschiedliches beobachten. Im Negativen sieht man den Einfluss der Gegenwartskultur ab und zu an der Art, wie Gottesdienste geleitet werden. Dann verfällt ein Priester in die Rolle des Moderators, der die Gemeinde wie ein Publikum im Fernsehen bedient und möglicherweise auch reglementiert. Das kann man übrigens auch bei anderen Leiterinnen und Leitern von Gottesdiensten erleben. Gleichzeitig gibt es heute aber eine sehr starke Beteiligung der Gläubigen an der Messfeier. Frauen und Männer in der Kirche erwarten, dass sie beteiligt sind an dem, was im Gottesdienst geschieht, dass das ihr Gottesdienst ist. Da kommen zwei Dinge zusammen: Zum einen das, was unsere Gesellschaft an Partizipationsvorstellungen prägt, zum anderen die theologische Überzeugung, die während des Zweiten Vatikanischen Konzils entwickelt wurde: Die Getauften feiern gemeinsam Gottesdienst, Stichwort: Gemeinsames Priestertum. Mit Blick auf Liturgie und Umwelt kann man festhalten: Es bleibt Grundsätzliches der Liturgie erhalten, die Tradition wird fortgeschrieben. Zugleich tritt Neues hinzu, aber das Verständnis und die Ausgestaltung der Liturgie verändern sich immer wieder. Letzteres gilt übrigens für Geschichte wie Gegenwart und wird sich nicht ändern. Liturgie entwickelt sich mit ihrem kulturellen Umfeld.
Frage: Ist die Liturgie in Ihren Augen ein Alleinstellungsmerkmal der Kirche?
Kranemann: In der Liturgie zeigt sich Kirche auf besondere Weise in ihrem Gottesbekenntnis und Christusbekenntnis. Sie erlebt selbst und teilt auch anderen mit, auf welchem Fundament sie steht, aus welchen Quellen sie lebt und welche Hoffnung sie trägt. Auf der anderen Seite muss man aber sagen – und wenn man in die letzte Statistik der Deutschen Bischofskonferenz schaut, sieht man das sehr deutlich –, dass bei vielen Feiern der Liturgie die Teilnehmerzahlen stark rückläufig sind und es inzwischen auch genügend säkulare Anbieter gibt, die insbesondere bei Trauungen und Beerdigungen teilweise recht liturgienahe Rituale vollziehen. Die Kirche steht da in großer Konkurrenz. Liturgie ist sicherlich ein Merkmal von Kirche, aber man muss auch sehen, das sich andere mittlerweile auf dem Feld tummeln und sehr professionell und gekonnt Feiern vorbereiten, die offensichtlich viele Menschen ansprechen. Möglicherweise mehr als die traditionellen Formen der Kirche.
Frage: Liturgie ist aber kein einfaches Angebot, sondern eine Hauptaufgabe der Kirche.
Kranemann: Das stimmt. Liturgie ist ein Grundvollzug der Kirche. Umso wichtiger ist mit Blick auf den Zustand der Kirche heute eine qualitätsvolle Liturgie, die das Gottesbekenntnis und den Menschen vor Gott ins Zentrum stellt.
Frage: Was heißt das genau?
Kranemann: Zunächst ist sie eine Liturgie, die sich auf ihre Grundaufgaben konzentriert und die wirklich den Dialog zwischen Gott und den Menschen ermöglicht. Da spielen die Schriftverkündigung und die Predigt eine zentrale Rolle. Die sakramentlichen Zeichen müssen so vollzogen werden, dass ihre Bedeutung nachvollziehbar ist. Und es muss eine Liturgie sein, an der die Gemeinschaft der Gläubigen wirklich beteiligt ist. Was ich dabei für ganz entscheidend halte: Die Menschen müssen erfahren, dass sie von Gott gerufen sind und im Gottesdienst ihr Leben vor Gott zur Sprache bringen können. Ein guter christlicher Gottesdienst ist Feier einer Glaubensgemeinschaft, die durch diese Liturgie gestärkt wird. Alles, was diesen Gottesdienst behindert, muss man sehr kritisch hinterfragen.
Frage: Das Herzstück bleibt dabei die Eucharistie, die aber nur gefeiert werden kann, wenn Priester vor Ort sind. Priester gibt es immer weniger. Was hat das für Konsequenzen?
Kranemann: Dass diese Probleme auf die Kirche zukommen, ist seit Jahrzehnten bekannt. Das ist kein neues Phänomen. Man hat mit den entscheidenden Schritten zu lange gewartet und wartet noch immer. Man hätte die Frage der Zulassung zur Ordination und die Frage der "viri probati" früher und offensiver diskutieren müssen. Wenn man den Gottesdienst vor Ort aufgibt, stellt das meines Erachtens langfristig die Existenz von Gemeinden in Frage. Dass eine Gemeinde als Reisebetrieb funktioniert, dass man also an andere Orte reist, um Gottesdienst zu feiern, mag in Einzelfällen gelingen. Aber ich bin sehr skeptisch, was das Konzept von großen Seelsorgeräumen betrifft. Worüber man nachdenken muss, sind andere Formen von gottesdienstlicher Versammlung am Sonntag.
Frage: Wie können die aussehen?
Kranemann: Zuerst bleibt die Frage, ob man nicht auf andere Weise die Leitung der Eucharistie gewährleisten kann. Der zweite Punkt wäre ein breiteres Angebot an Wortgottesdiensten, die dann auch von Nichtordinierten geleitet werden. Es muss vor Ort die Möglichkeit geben, dass sich die Gläubigen am Sonntag zum Gottesdienst versammeln. Das muss ein qualitativ guter Gottesdienst sein, der ein Leben aus dem Glauben stärkt. Und er muss nicht an jedem Ort gleich aussehen. Die Möglichkeiten für die Feier der Liturgie sind heute schon regional sehr unterschiedlich. Und die dritte Sache ist: Probleme mit dem Sonntagsgottesdienst hat ja nicht nur die katholische, sondern auch die evangelische Kirche. In Gebieten, wo es nur noch ganz kleine Anteile katholischer und evangelischer Christen gibt, sollte man auch überlegen, ob es nicht ökumenische Gottesdienste geben kann, damit christliches Leben vor Ort überhaupt Bestand hat. Ich glaube, dass diese Diskussion jetzt ansteht und geführt werden muss. Das Entscheidende scheint mir zu sein, dass man christliches Leben um den Gottesdienst herum sichern kann. Und dafür muss man in Zeiten wie heute auch mal neue, ungewohnte Wege gehen.