Schweizerin gegen den Pflichtzölibat für Weltpriester
Der Pfarrer von Brigels war ein sehr beliebter Mann. Der 35-Jährige habe die Menschen der Gemeinde im Kanton Graubünden erreicht, sagt Florentina Camartin – sogar die, die mit dem Glauben nichts mehr zu tun hatten. Sie spricht von einem Aufleben des gemeindlichen Miteinanders, ausgelöst durch das Wirken dieses freundlichen und ehrlichen Geistlichen. Drei Jahre lang war er dort tätig und nie habe es Anzeichen gegeben. "Niemand hat etwas geahnt", sagt Camartin.
Dann trat der Priester eines schönen Sonntages im Juli 2018 nach der Messe noch einmal vor seine Gläubigen. Dies sei sein letzter Gottesdienst. In dieser Gemeinde und überhaupt. Er sei sieben Jahre lang gerne Priester gewesen, sehr gerne sogar. Doch habe er den Bischof von Chur um Entpflichtung gebeten. Aus der Zeitung erfuhr Camartin dann: Zwei Jahre zuvor hatte der Pfarrer eine Frau kennengelernt. Zu lange hätte er deshalb in ständigem Konflikt mit seinem Zölibatsversprechen gelebt. Jetzt wolle er die Beziehung nicht mehr geheim halten müssen, sondern öffentlich leben können. Für ihn sei dieser Schritt ein wichtiger Neuanfang.
Doch was für den Priester ein Neuanfang war, war für die Gemeinde Brigels ein Schock. Schnell wurde heftige Kritik laut. Aber nicht am Pfarrer, sondern an der jahrhundertealten Institution des Zölibats. Der Seelsorgerat der Pfarrei setzte sich hin und schrieb einen Offenen Brief an den Papst. Florentine Camartin setzte sich an den Computer und eröffnete eine Online-Petition. "Der Pflichtzölibat für die Weltpriester soll abgeschafft werden!" So lautete ihre Forderung, die schon in den ersten Tagen großen Zuspruch bekam. Nach einer Woche waren 2.000 Unterschriften zusammengekommen.
"Das ist doch ein Zeichen, dass den Leuten ihre Kirche nicht gleichgültig ist. Dieses Thema beschäftigt sie", betont die 76-jährige Camartin. Und das sei doch erstmal etwas Gutes. Die Menschen würden in Glaubensfragen heute selbst denken. Und nicht erst seit dem Missbrauchsskandal sind viele althergebrachte Ordnungen nur noch schwerlich an die heutigen Gläubigen vermittelbar. Da sei es Aufgabe der Kirchenoberen im Hier und Jetzt verständlich zu argumentieren, warum man enthaltsam leben müsse, um die Beichte zu hören und die Wandlungsworte zu sprechen. Es reiche eben nicht mehr, nur die Tradition als Begründung anzuführen.
Camartin lebt selbst zölibatär
Für Camartin ist der Zölibat keine Sache des Glaubens, sondern des praktischen Lebens. Sie gehört dem Dritten Orden des heiligen Franziskus an und lebt enthaltsam. Sie selbst sei glücklich damit. Doch so viele Geistliche seien es nicht. Weil diese zwar die Berufung zum Priestertum hätten, nicht aber zum zölibatären Leben, sagt sie. Deshalb geht es ihr darum, dass Weltpriester selbst entscheiden dürfen, "ob sie ihr Amt als Zölibatäre oder als Verheiratete ausüben wollen. Auch verheiratete Priester sollen wieder in ihr Amt zurückkehren können, wenn diese das wünschen." Camartin begründet das damit, dass sich der verpflichtende Zölibat in seiner heutigen Form erst im Laufe der Jahrhunderte entwickelt hat. Und in den mit Rom unierten Ostkirchen sei es nach orthodoxem Vorbild für Priester schließlich möglich, entweder zölibatär zu leben oder zu heiraten. Nur Bischöfe und Mönche müssten sich dort zu Ehelosigkeit und Enthaltsamkeit verpflichten.
Obwohl viele Gläubige dem Zölibat kritisch oder ablehnend gegenüberstehen, flaute der Zuspruch für die Petition über die Zeit ab. Das Ziel waren 8.000 Unterschriften, am Ende kamen "nur" 5.252 zusammen. Aber neben den Unterschriften erreichte eine Flut an Kommentaren die Schweizerin. Deshalb entschloss sie sich dazu, nicht einfach nur eine E-Mail nach Rom zu schicken, sondern die Ergebnisse der Petition drucken und binden zu lassen. Herausgekommen ist ein fast 200 Seiten starkes Dokument. Camartin ist überzeugt, dass insbesondere die Kommentare so nicht ungehört verhallen: "Das hat Gewicht, wenn man es in die Hände bekommt." Doch ob das Dokument neben seinem physischen Gewicht, noch weiteres im Vatikan haben wird, bleibt ungewiss.
Trotzdem schrieb sie am Dienstag auf der Seite ihrer Petition: "Mit großer Freude kann ich nun berichten, dass es gelungen ist, die Petition Papst Franziskus persönlich zu übermitteln. Er hat sie wirklich in die Hände bekommen und gewiss auch gelesen." Wer das Dokument dem Papst überbrachte und wie dieser reagiert habe, möchte sie auf Nachfrage von katholisch.de nicht verraten. "Der Papst wird auch nicht sofort antworten, vielleicht überhaupt nicht." Dafür habe sie trotzdem Verständnis. Mit ihrem Dokument würden "die Vorgesetzten nun wissen, was die ihnen Anvertrauten denken".
"Ich habe getan, was ich tun musste"
Seit Januar 2019 hat Breil, wie Brigels auf Rätoromanisch genannt wird, wieder einen Pfarrer. Einen Geistlichen aus Indien der vorher im deutschen Bistum Aachen gewirkt habe. Für ihn sei der Zölibat kein Problem. Er habe ihr erzählt, in seiner Heimat in Indien gäbe es so viele junge Männer, die zölibatär leben wollten, sie könnten von dort Priester in die ganze Welt exportieren. Camartin lacht kurz und wird dann wieder ernst, denn genau darum geht es ihr: "Keine Probleme machen, wo es keine gibt." Sie fordere keine generelle Abschaffung des Zölibats. Sie fordert regionale Lösungen.
Denn die Frage des Pflichtzölibats spiele – auch mit Blick auf das Amazonasgebiet – vor allem in den Regionen eine Rolle, in denen die Priesterzahlen sinken oder sehr niedrig sein würden. Viele junge Männer würden durch die verpflichtende Enthaltsamkeit abgeschreckt. Man solle den wenigen, die sich noch berufen fühlten, nicht vorschreiben, wie sie zu leben haben, um ihr Amt ausüben zu können, sagt Camartin. Deshalb hält sie eine Diskussion im Vatikan und unter den Bischöfen über den Zölibat für unumgänglich. Und ihr Dokument soll ein bescheidener Beitrag dazu sein. "Ich habe getan, was ich tun musste. Jetzt bleibt mir nur noch zu hoffen und zu beten, und das tue ich von ganzem Herzen", sagt sie.