Der "Marsch für das Leben" – eine Demonstration mit Konfliktpotential
Demonstrationen sind in Berlin eigentlich nichts Besonderes. Fast jeden Tag wird in der Hauptstadt irgendwo für oder gegen irgendwas demonstriert. Meist regt das kaum jemanden auf, lediglich Auto- und Fahrradfahrer schimpfen mitunter über protestbedingte Straßensperrungen und Umleitungen.
Doch ausgerechnet eine maßgeblich von Christen getragene Demonstration durchbricht einmal im Jahr diese Berliner Langmut: der "Marsch für das Leben". Seit 2002 richtet der "Bundesverband Lebensrecht" die gegen Abtreibung und Sterbehilfe gerichtete Demonstration im Berliner Regierungsviertel aus – und fast ebenso lang wird sie von teilweise gewalttätigen Gegenprotesten begleitet. Mehrfach wurde der Marsch in der Vergangenheit durch Sitzblocken linker Gegendemonstranten aufgehalten; hinzu kamen Versuche, den Demonstrationszug mit Hilfe von Trillerpfeifen, Sprechchören ("Hätt' Maria abgetrieben, wärt ihr uns erspart geblieben") und Handgreiflichkeiten zu stören.
"What-the-Fuck-Bündnis" hat Proteste angekündigt
Auch für diesen Samstag, wenn der "Marsch für das Leben" erneut durch Berlin ziehen wird, hat ein linkes "What-the-Fuck-Bündnis" ("Was zum Teufel") Proteste angekündigt. Unter dem Motto "Antifeminismus sabotieren – Abtreibung legalisieren" will das Bündnis laut eigener Aussage für eine befreite und emanzipatorische Gesellschaft mobilisieren und den Marsch mit kreativen Protestaktionen stören. "Wir stellen uns gegen menschenfeindliche Positionen und fordern reproduktive Rechte für alle. Dazu gehört auch das Recht auf Abtreibung", so Pressesprecherin Lili Kramer. Berlins Polizei wird auch angesichts solcher Ankündigungen mit einem großen Aufgebot vor Ort sein, um eine Eskalation zu verhindern.
Doch nicht nur im linken Milieu stößt der "Marsch für das Leben" auf Vorbehalte. Auch die beiden großen Kirchen tun sich mit dem Protestzug schwer. Das zeigt sich etwa an der traditionell geringen Teilnahmezahl evangelischer und katholischer Bischöfe. Aus der katholischen Kirche schlossen sich in der Vergangenheit meist nur drei oder vier Bischöfe der Demonstration an. Noch weniger waren evangelische Bischöfe vertreten: Hier war Hans-Jürgen Abromeit 2018 der erste Bischof überhaupt, der am "Marsch für das Leben" teilnahm – und sich anschließend dafür rechtfertigen musste. Immerhin: In diesem Jahr haben im Vorfeld fünf katholische Bischöfe ihre Teilnahme zugesagt: Die Diözesanbischöfe Wolfgang Ipolt (Görlitz), Stefan Oster (Passau) und Rudolf Voderholzer (Regensburg) sowie die Weihbischöfe Matthias Heinrich (Berlin) und Florian Wörner (Augsburg).
Einige Bischöfe geben Terminkollisionen als Begründung für ihre Abwesenheit bei der Kundgebung an. Doch viele "Lebensschützer" fragen sich, wie glaubwürdig solche Aussagen sind. Immerhin steht der Termin für den "Marsch für das Leben" immer schon über ein Jahr im Voraus fest. Sind es am Ende also eher grundsätzliche Vorbehalte gegen die Demonstration? Darauf deutet zumindest eine Aussage des Berliner Landesbischofs Markus Dröge vom vergangenen Jahr hin. In einer Stellungnahme hatte Dröge sich damals gegen "diese Art von Demonstration" gewandt. Sie habe "bisher mehr polarisiert als zu sachlichen Diskussionen beigetragen".
Der "Marsch für das Leben" – der Sache nicht förderlich?
Der Diözesanrat des Erzbistums Berlin hatte 2017 ähnlich argumentiert. Vielfältiges Engagement für "einen wirksamen und unbedingten Schutz des Lebens von der Empfängnis bis zum Tod" sei wichtig, so das Laiengremium damals in einer Erklärung. "Allerdings verstehen wir auch, dass besonders plakative Formen des Protestes wie bei diesem 'Marsch' nicht jedermanns Sache sind und von manchem als der Sache nicht förderlich angesehen werden können."
Themenseite: Diskussion um Werbeverbot für Abtreibungen
In Deutschland ist Werbung für Abtreibungen verboten. Doch in der Politik mehrten sich Stimmen für eine Abschaffung des entsprechenden Paragraphen. Nun ist ein Kompromiss gefunden - das Ende des Streits ist das aber wohl nicht.Diese Begründung hört man hinter vorgehaltener Hand auch in manchen Ordinariaten. Beim sensiblen Thema Abtreibung, so der Tenor, sei eine Demonstration zu konfrontativ. Hinter dieser Sichtweise verbirgt sich häufig auch die Überzeugung, dass die seit 1995 geltenden Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch in Deutschland der "bestmögliche Kompromiss" sind, der politisch erreicht werden kann, wie es ein führender Vertreter der katholischen Kirche gegenüber katholisch.de formuliert. Eine Aussage, die durch handfeste Zahlen gestützt wird, denn die Zahl der Abtreibungen ist in vielen europäischen Ländern (darunter katholisch geprägte Staaten wie Spanien) deutlich höher als in Deutschland.
Die Debatte um den Strafrechtsparagrafen 219a, der das Werbeverbot für Abtreibungen regelt, hat in der katholischen Kirche in diesem Zusammenhang Spuren hinterlassen. Die Diskussion im vergangenen Jahr habe gezeigt, so der Kirchenmann, wie schnell der mühsam ausgehandelte Kompromiss beim Abtreibungsrecht ins Wanken geraten könne. Tatsächlich gibt es bei Linken, Grünen und Jusos bereits seit Längerem Bestrebungen, den Strafrechtsparagrafen 218 abzuschaffen und Abtreibungen vollständig zu legalisieren. Der Kirche wäre es vor diesem Hintergrund am liebsten, wenn man keine schlafenden Hunde wecken würde – weil man aus katholischer Perspektive bei einer erneuten Gesetzesänderung in Sachen Lebensschutz wohl noch deutlich schmerzhaftere Kompromisse als zuletzt beim Paragrafen 219a eingehen müsste. Eine Demonstration, die den Kampf gegen Abtreibungen so offensiv in das Herz der Hauptstadt trägt, erscheint daher vielen Kirchenvertretern kontraproduktiv.
Abtreibung als Schnittstellenthema zu rechtsgerichteten Milieus
Erschwerend hinzu kommt die Nähe der Lebensschutzbewegung zur AfD. "Das Thema Abtreibung ist neben der sogenannten Islamisierung und dem sogenannten Genderwahn eigentlich das dritte wichtige Schnittstellenthema zwischen ultrakonservativen Christen und rechtsgerichteten Milieus. Da findet man tatsächlich zusammen und es ist ja auch kein Zufall, dass sich die AfD so explizit gegen Abtreibung engagiert", sagte etwa die Publizistin Liane Bednarz im Deutschlandfunk.
Auch wenn der Einsatz für das ungeborene Leben ein katholisches Kernanliegen ist, gibt es wohl nicht nur unter Bischöfen Hemmungen, diese Überzeugung in einer Reihe mit AfD-Politikern zu vertreten. Zumal im vergangenen Jahr die Debatte aufkam, ob der "Marsch für das Leben" inzwischen von Rechtspopulisten gekapert worden sei – was die Organisatoren jedoch entschieden zurückweisen: "Die Veranstaltung ist nicht rechtspopulistisch unterwandert. Man kann das ja nicht vermeiden, dass auch Menschen unsere Positionen im Lebensschutz übernehmen, die sonst Positionen haben, die man nicht gut findet", sagte Hartmut Steeb, der stellvertretende Vorsitzende des "Bundesverbands Lebensrecht" der "Frankfurter Rundschau". Wichtig sei, wer auf der Bühne das Sagen habe. "Und da hat noch nie ein rechtspopulistischer Mensch das Wort bekommen", so Steeb.
Um den Einsatz der Marschteilnehmer für das ungeborene Leben trotz solcher Diskussionen wertzuschätzen, senden einige Oberhirten traditionell Grußworte an den "Bundesverband Lebensrecht". Im Internet veröffentlichte der Verband bis zum Donnerstag Schreiben der Kardinäle Reinhard Marx und Rainer Maria Woelki, der Erzbischöfe Hans-Josef Becker, Stephan Burger und Heiner Koch, der Bischöfe Gregor Maria Hanke und Heinrich Timmerevers sowie des Apostolischen Nuntius, Erzbischof Nikola Eterovic.
Der Marsch bleibt für die Kirchen ein Spagat
Marx schrieb als Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, dass die Teilnehmer des "Marsches für das Leben" öffentlich der Überzeugung Ausdruck verliehen, dass die Würde des Menschen unantastbar sei. "Dies ist besonders dann zu betonen, wenn das Lebensrecht eines ungeborenen oder schwerkranken Menschen in Frage gestellt wird. Für Ihren beharrlichen Einsatz danke ich Ihnen herzlich", so der Münchner Erzbischof, der der erwarteten mehreren Tausend Teilnehmern zudem Gottes Segen wünschte.
Für die beiden Kirchen bleibt der "Marsch für das Leben" trotzdem auch im Jahr 2019 ein Spagat – zwischen dem gewünschten Einsatz für den Lebensschutz einerseits sowie der notwendigen Abgrenzung nach rechts und der Sorge vor einem Aufweichen der geltenden gesetzlichen Regelungen andererseits. Denn eine solche Aufweichung, da sind sich Kirchenvertreter sicher, würde wohl zwangsläufig zu einer Steigerung der Zahl der Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland führen.