Konfessionen bei ethischen Grundfragen uneins

Welche Stimme hat die Kirche in einer pluralen Gesellschaft?

Veröffentlicht am 02.10.2019 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 
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Siegburg ‐ In der frühen Bundesrepublik war die Kirche eine politische Macht, Wahlhirtenbriefe wurden gefürchtet. Doch mittlerweile dringen die Bischöfe mit ihren Themen in der Gesellschaft kaum noch durch. Sie sind heute nur eine Stimme von vielen.

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Sterbehilfe, Präimplantationsdiagnostik, vorgeburtliche Diagnostik, die Debatte um die Ehe für alle oder um Leihmutterschaft: Ethische Fragen spielen in der deutschen Politik eine bedeutende Rolle. Eigentlich ein Heimspiel für die Kirchen, die sich als Experten für Ethik verstehen. Doch immer häufiger sprechen protestantische und katholische Kirchenleitungen nicht mit einer Stimme. Und auch innerhalb der Kirchen selber sind Christen in Grundfragen lange nicht mehr einer Meinung.

"Das tut manchmal richtig weh", bekennt Stefan Vesper, Generalsekretär des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK), bei einer Tagung des ZdK und der Akademie der Versicherer im Raum der Kirchen (vrk) unter der Überschrift "Anstrengende Vielfalt" in Siegburg. Sinkt damit der Einfluss der Christen in der Gesellschaft? Oder bietet die Pluralität sogar neue Chancen?

Thomas Großbölting, Professor für Neuere Geschichte an der Universität Münster, lenkt den Blick in die Kirchengeschichte und macht deutlich, dass die Kirche sich immer wieder neu erfinden musste und dass "das Christentum wandelbar ist". Erst mit dem 19. Jahrhundert habe sich herausgebildet, was zuletzt als typische Gestalt der Kirche in Deutschland angesehen wurde: strenge Hierarchie, Überhöhung des sakralen Amtes, Uniformierung des religiösen Lebens und vermeintliche Geschlossenheit des katholischen Milieus mit Kontrolle von Gottesdienstbesuchen und religiöser Praxis.

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"Das tut manchmal richtig weh", sagt Stefan Vesper, Generalsekretär des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK), über unterschiedliche Positionen der Kirchen bei ethischen Fragen.

Dieses Zeitalter der vermeintlichen Eindeutigkeiten sei vorbei, so der Historiker. Und verweist auf Länder wie die USA oder Brasilien, wo religiöse Pluralität der Normalfall sei - auch unter Katholiken. "Es gibt kein Zurück in eine vermeintliche Eindeutigkeit", so der Historiker. Die Pluralisierung der Kirchen sei auch ein positives Zeichen von Demokratisierung. Es gelte, das zu lernen.

Aus Sicht des Jesuiten Klaus Mertes muss die Kirche in Deutschland angesichts von Pluralisierung einen herben Bedeutungsverlust hinnehmen. Trotz verzweifelter Versuche gelinge es den Bischöfen nicht mehr, gesamtgesellschaftlich Themen zu besetzen: "Die Kirche ist nur noch eine Stimme von vielen", sagt er. "Und das verzweifelte, immer neue Bemühungen um Relevanz ist ein Krankheitsbeschleuniger."

Dennoch sieht Mertes die Christen vor großen Aufgaben: Obwohl viele Menschen in Deutschland mit dem Gefühl lebten, sie brauchten keine Religion, habe die religiöse Suche nicht aufgehört, so der Jesuit. "Sie landet nur nicht mehr bei den Kirchen." Die Menschen suchten mystische Erfahrungen und Lebenssinn. Die christliche Botschaft von Versöhnung und Nähe Gottes sei aber weiterhin ein attraktives Angebot.

Pater Klaus Mertes im Porträt
Bild: ©Julia Steinbrecht/KNA

Pater Klaus Mertes glaubt, dass die Kirche in der heutigen Gesellschaft nur noch eine Stimme unter vielen ist.

Der frühere Vizepräsident des Deutschen Bundestages, Johannes Singhammer (CSU), forderte die Kirchen zu mehr Zurückhaltung in politischen Fragen auf. Die Religionsfreiheit und das Evangelium verlangten zwar nach dem öffentlichen Wort und der Tat der Kirchen, so der Politiker. Das gelte insbesondere etwa bei Fragen wie Abtreibung oder Sterbehilfe oder dem Einsatz für Flüchtlinge auf dem Mittelmeer.

Mit detaillierten Einlassungen etwa zu tagespolitischen Fragen der Energiewende oder Protesten gegen Autobahnbau überdehnten die Kirchen aber ihre Position. "Wenn die Kirche sich in die Arena der vorläufigen Wahrheiten begibt, droht sie ihren Status zu verlieren." Tagespolitische Fragen müssten demokratisch und im Kompromiss gelöst werden - sie dürften nicht auf grundsätzliche moralische Höhen gehoben werden.

Ellen Ueberschär, Vorstand der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung und frühere Generalsekretärin des Deutschen Evangelischen Kirchentags, definiert die Rolle der Kirchen in der Politik dagegen viel weiter. Sie verweist auf ihre Erfahrungen als evangelische Christin in der Endphase der DDR. Dort habe die Kirche Freiräume geöffnet und Orte angeboten, wo gesellschaftliche Konflikte angesprochen und ausgetragen werden konnten - "aber auf einem gemeinsamen Grund", betont sie.

Von Christoph Arens (KNA)