Neymeyr: Diese Konsequenzen muss es nach dem Anschlag von Halle geben
Der Schock nach dem Angriff auf die Synagoge in Halle an der Saale sitzt tief. Bereits am Mittwoch hatten mehrere deutsche Bischöfe ihre Bestürzung geäußert und den Anschlag scharf verurteilt. In der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) ist der Erfurter Bischof Ulrich Neymeyr Vorsitzender der Unterkommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum. Im Interview mit katholisch.de äußert er sich zu der Attacke und nötigen Konsequenzen.
Frage: Bischof Neymeyr, der mutmaßlich rechtsextreme Anschlag auf die Synagoge in Halle hat bundesweit für großes Entsetzen gesorgt. Was war Ihre Reaktion, als Sie von den Ereignissen erfahren haben?
Neymeyr: Ich war schockiert, als ich von der Schießerei und den Opfern erfahren habe, und mein Entsetzen nahm noch zu, als sich die Hinweise auf einen Holocaust-Leugner als Täter verdichteten, der einen Mordanschlag auf betende Juden in ihrer Synagoge geplant hatte, am höchsten jüdischen Feiertag, mitten in Deutschland. Unfassbar! In Gedanken und im Gebet bin ich bei den Opfern und ihren Familien und allen, die unter dem Anschlag leiden.
Frage: "Nie wieder!" lautete die zentrale Lehre aus dem Holocaust. Angesichts des Anschlags von Halle aber auch zahlloser anderer Gewalttaten und Übergriffe gegen Juden in den vergangenen Monaten: Hat Deutschland bei diesem "Nie wieder!" versagt?
Neymeyr: Antisemitismus, Mordattentate auf Juden und Anschläge auf Synagogen: Solange Juden sich davor fürchten müssen, stimmt etwas ganz und gar nicht in Deutschland. Ich hatte gehofft, dass wir beim "Nie wieder!" schon weiter sind. Jetzt erleben wir, dass Rassismus und Antisemitismus geradezu selbstbewusst ihre hässliche Fratze zeigen, und das in einer Demokratie, die auf der unantastbaren Würde jedes Menschen beruht. Was wir jetzt in Halle erleben mussten, kommt ja nicht aus heiterem Himmel. Die Verrohung der Sprache in politischen Debatten und in den sozialen Medien hat die Anstandsgrenze verschoben. Wir müssen uns doch nicht wundern, dass manche der Hetze Taten folgen lassen. NSU, der Mordfall Lübcke und jetzt Halle – muss man noch deutlicher werden? Gerade darum kommt es jetzt darauf an, dass die Mehrheit viel stärker als zuvor ihre Solidarität mit den jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern und die Verurteilung des Antisemitismus deutlich macht, gerade auch in der Öffentlichkeit und dabei nicht zuletzt im Internet. "Nie wieder!" darf keine Floskel sein.
Frage: Nach Attacken gegen Juden und jüdische Einrichtungen findet regelmäßig eine große Solidarisierung mit der jüdischen Bevölkerung in Deutschland statt. Wenn es aber um konkrete Konsequenzen geht, scheinen Politik und Gesellschaft ratlos zu sein. Was muss getan werden, damit Juden in Deutschland frei und sicher leben können?
Neymeyr: Zunächst einmal muss alles getan werden, und zwar dauerhaft, nicht nur punktuell, dass jüdische Einrichtungen geschützt sind und Juden, ohne Angst zu haben, sich versammeln und Gottesdienste feiern können. Es ist traurig genug, dass solche Maßnahmen notwendig sind, aber angesichts der Realität haben wir keine andere Wahl. Für Initiativen, die die Solidarität mit den Juden und ihren Gemeinden zum Ausdruck bringen, ist eine breite Unterstützung und Teilnahme seitens der Bevölkerung wünschenswert. Wo es möglich und gewünscht ist, können vielleicht auch Nichtjuden an jüdischen Gottesdiensten teilnehmen und so ihre Anteilnahme bekunden. Aufrufe zu antisemitischen Hasstaten und selbstverständlich diese selbst müssen dagegen konsequent vom Rechtsstaat verfolgt werden. Ob die nationalen und internationalen Gesetze ausreichen, um der Verbreitung von Hass, Lügen und Verleumdungen im Internet einzuschränken, wäre eigens zu prüfen. Grundsätzlich müssen wir gesellschaftlich an der Frage dran bleiben, wer und was Antisemitismus fördert und welche Möglichkeiten es gibt, das zu unterbinden. Da sind alle Demokraten gefordert. Zum Beispiel bei Wahlen: Jeder Wähler, jede Wählerin sollte sich genau überlegen, bei welcher Partei man sein Kreuz macht und vor allem: welche Folgen das haben wird. Nur mit Protest und Anti-Haltung lässt sich kein Staat machen. Ferner braucht es nach wie vor der Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur und ihrer Folgen, wie etwa dem Neonazismus. Den gab es auch in der DDR, was aber vom SED-Regime geleugnet wurde. Welche Auswirkungen hat das für heute? Auch dieser Frage müssen wir nachgehen.
Frage: Was können wir Christen und was kann die katholische Kirche jetzt tun, um Solidarität und konkrete Hilfe für Juden zum Ausdruck zu bringen?
Neymeyr: Zunächst einmal das, was jeder tun kann: Solidarität zeigen, gute Kontakte zu den jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern und ihren Gemeinden pflegen und jedem ins Wort fallen, der antisemitisch und rassistisch daherplappert. Das sollte gerade für Katholiken selbstverständlich sein, denn die Juden sind, wie es einmal Papst Johannes Paul II. gesagt hat, unsere älteren Brüder. Und Gott selbst hält an seinem Bund mit Israel nach wie vor fest. Für Antijudaismus und gar Anisemitismus gibt es in der Kirche keinen Platz. Das kann gar nicht oft genug gesagt werden. Gott sei Dank bestehen in Deutschland schon lange gute Kontakte zwischen Kirchen und Judentum. Am 27. Oktober feiert der Koordinierungsrat der christlich-jüdischen Gesellschaften seinen 70. Geburtstag. Vielleicht müssen wir noch stärker nach draußen tragen, dass es ein selbstverständliches Miteinander ist.