Wolf: Wer die Aufklärung in der Kirche ablehnt, ist nicht katholisch
Schon seit Jahren beschäftigt sich Hubert Wolf, Professor für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte in Münster, mit dem Verhältnis von Katholizismus und Aufklärung. Ein Buch versammelt jetzt seine Gedanken darüber, ob und wie eine "katholische Aufklärung" auch innerhalb der Kirche funktioniert.
Frage: Herr Wolf, Die Aufklärung will die Welt rational und faktenbasiert erforschen. Die Religion beschäftigt sich dagegen mit dem, was über den menschlichen Horizont hinausgeht. Da sind Spannungen bis zur Unüberwindbarkeit doch vorprogrammiert.
Wolf: Natürlich gibt es da Spannungen – deshalb ist "katholische Aufklärung" ja so ein interessanter Begriff. Das Christentum selbst ist im Grunde genommen die wichtigste Form des kritischen Bewusstseins: In dem Moment, in dem ich Gott transzendent denke, kann ich Kritik an der Welt üben. Unsere Tradition und die Heilige Schrift sind voll von Kult-, Ideologie- und Religionskritik. Insofern finde ich nicht, dass man die beiden Dinge von Vorneherein gegeneinander ausspielen sollte.
Frage: Inwiefern trägt denn das Christentum eine Aufklärung in sich?
Wolf: Im ersten Petrusbrief heißt es: "Seid stets bereit, jedem Rede und Antwort zu stehen, der von euch Rechenschaft fordert über die Hoffnung, die euch erfüllt." (1 Petr 3,15) Es geht also um eine vernünftige Begründung. Die Bibel benutzt dafür im griechischen Original das Wort "Logos". Der taucht auch am Beginn des Johannesevangeliums auf: "Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und das Wort war Gott." Im Original steht dort nicht "Wort", sondern "Logos". Der "Logos" kam in die Welt, nicht der "Mythos". Natürlich übersteigt Religion Gefühl und Rationalität, aber was wir als moderne Menschen tun, dafür haben wir doch hoffentlich plausible und rationale Argumente. Für mich als Theologe und Katholik ist völlig klar, dass ich einen Glauben habe, den ich als erwachsener, aufgeklärter Mann mit Argumenten vertreten kann. Papst Benedikt XVI. hat nicht umsonst zu Recht gesagt: Jede Religion, die in der Neuzeit ankommen will, müsse durch die Aufklärung hindurch – auch in Bezug auf den Islam. Genau das ist meine Position: Wir haben Argumente für den Glauben und müssen in der Lage sein, sie zu nennen.
Frage: Trotzdem tut sich die Kirche mit Reformen und Aufklärung oft schwer – vor allem, wenn es um sie selbst geht.
Wolf: Jede Institution, die das helle Licht der Aufklärung scheut, macht deutlich, dass sie möglicherweise etwas zu verbergen hat und es ihr am Ende nicht um die Autorität des Arguments, sondern um autoritäres Gebaren geht. Das gibt es nicht nur in der Kirche, sondern bei einer ganzen Reihe von Institutionen. Wer aber wie in unserer katholischen Liturgie der Osternacht das Licht in den Mittelpunkt stellt, braucht sich davor nicht fürchten. Nur wer Angst hat, dass das Licht etwas Verborgenes erhellen könnte, muss es scheuen.
„Jede Institution, die das helle Licht der Aufklärung scheut, macht deutlich, dass sie möglicherweise etwas zu verbergen hat.“
Frage: Das heißt, die Kirche hat Grund zur Angst?
Wolf: Ich würde nie von "der" Kirche sprechen. Es gibt in der einen katholischen Kirche ganz unterschiedliche Strömungen. Dazu gehört in der Geschichte die "katholische Aufklärung", die von der Versöhnungsfähigkeit von Glaube, Vernunft und Wissenschaft überzeugt war. Andere fanden diese rationale Infragestellung ganz furchtbar und haben sich in eine Übernatur und ein Ghetto geflüchtet. Wenn heute viele Bischöfe im Zusammenhang der Aufarbeitung des Missbrauchsskandals von absoluter Transparenz sprechen, dann ist das wunderbar. Denn damit nehmen sie ein Grundanliegen katholischer Aufklärung auf.
Frage: Das Christentum hat nun schon beinahe 2.000 Jahre Geschichte erlebt. Sie bezeichnen das als Schatz für eine Aufklärung in der katholischen Kirche. Inwiefern?
Wolf: Dass Christus in die Welt gekommen ist, hat in der Geschichte ungeheuer vielfältige Wirkungen hervorgerufen. Darunter war viel Schlechtes, aber auch ungeheuer viel Gutes! Wenn das aufgeklärte Prinzip gilt, gilt auch das Prinzip der "ecclesia semper reformanda". Kirche muss sich immer wieder bekehren, sich immer wieder neu an Christus orientieren. Sie muss plausible Argumente für das finden, was sie tut. In der Geschichte gibt es viele Beispiele für diese Reform, denn "reformare" bedeutet ja eigentlich "zurückformen". Deshalb müssen wir in der jetzigen Diskussion um den Zölibat, die Frauenweihe oder der Sexualmoral aus der Tradition Argumente finden und damit zeigen, dass man nicht nur Katholik und moderner Mensch gleichzeitig sein kann, sondern als Katholik der eigentlich aufgeklärte Mensch ist. Eine Aufklärung, die sich der Grenzen der eigenen Vernunft bewusst wird, ist offen für Offenbarung.
Frage: Dennoch hat die Kirche Rückbesinnungen oft unterbunden. Das Konzil von Trient ließ zahlreiche, auch regionale Gottesdienstformen neben dem tridentinischen Ritus zu, im Konzil von Konstanz wurde die Autorität des Papstes Konzilsentscheidungen untergeordnet, in der Alten Kirche wurden die Bischöfe von den Gläubigen gewählt – all das ist in der Kirche trotz der Tradition heute fremd. Woran liegt das?
Wolf: Das liegt an einem klerikalen System, das die eigene Macht erhalten will. Das sehen wir gerade sehr deutlich an den mühsamen Diskussionen der Amazonas-Synode. Aber wir haben in der Kirche zwei Quellen: Schrift und Tradition. Wenn wir das wieder ins Bewusstsein bringen, müssen sich diejenigen, die Reformen verweigern, harte Anfragen aus der eigenen Tradition gefallen lassen. Auch bei den Diskussionen um Zölibat, Frauenweihe und kollegial ausgeübter Macht gilt: Es gibt in der Tradition Argumente, die mir im aufgeklärten Sinn plausibel erscheinen. Da muss jemand erstmal mit Argumenten versuchen, darzulegen, dass das nicht katholisch ist. Das ist sehr schwer, denn dann muss man gegen Vernunft und Tradition argumentieren.
Frage: Welche Schlüsse muss die Kirche aus dieser Geschichte für die Zukunft ziehen?
Wolf: Aufklärung ist ein andauernder Prozess und das ist die zentrale Aufgabe der Theologie. Denn sie ist nach Anselm von Canterbury "fides quaerens intellectum", der Glaube, der nach dem Verstehen fragt – und damit ein aufklärerisches Projekt. Wir können nicht so tun, als würden irgendwelche unlogischen, nicht-rational einzuholenden Dinge in der Luft herumschwirren. Wir haben uns mit den großen Denkern wie Anselm von Canterbury oder Thomas von Aquin selbst verpflichtet, ständig Selbstaufklärung und damit Religionskritik nach innen zu betreiben. Wir haben beispielsweise ganz unterschiedliche Persönlichkeiten von Heiligen – ist diese Fülle, diese Katholizität nicht gut? Ist das nicht besser als der Einheitskatholizismus oder der Fundamentalismus? Denn Fundamentalismus kann nicht aufgeklärt sein.
Frage: Halten Sie im Anbetracht der beschriebenen klerikalen Machtstrukturen eine weitergehende Aufklärung der katholischen Kirche im Moment für möglich?
Wolf: Was soll denn sonst ein synodaler Prozess sein, wenn er sich nicht um Aufklärung bemüht? Aufklärung zunächst über den Missbrauch, aber auch über die Gründe dafür – und wie man diese Krise bearbeiten kann. Wenn das nicht zum Selbstverständnis unserer Kirche gehört, sind wir nicht katholisch. Ich bin dagegen, etwa in der Diskussion um die Neuevangelisierung einen Gegensatz zwischen gefühlsseliger Spiritualität und rationalen Strukturen aufzubauen. Wir müssen erst einmal analysieren, was der Verkündigung der Frohen Botschaft entgegensteht. Dann müssen wir plausible Argumente für das finden, was wir ändern wollen – und zwar von innen, aus der Tradition. Das ist unsere Aufgabe als Theologen. Wenn sich die Oberhirten jedoch nicht auf diesen Weg begeben wollen, dann sind sie nicht katholisch, sondern Fundamentalisten.