Wie man im Reli-Unterricht Stille lernen kann
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Oft ist es einfach zum Davonlaufen. In der Schule ist es laut. Die Schülerschaft befindet sich an jedem Morgen im Wettbewerb um das lauteste Organ. Manchmal denke ich, wenn der Inhalt der Kundgebungen wenigstens halbwegs mit der Intensität ihrer Darbietung mithalten könnte. Aber da, fürchte ich, liegt ja das Problem. Verträgt sich eine wirklich wichtige Botschaft mit Lautstärke und Geschrei? Diese Frage erörtern wir im Unterricht vor allem der Unter- und Mittelstufe. Meine Schülerinnen und Schüler teilen mit, dass ihnen immer wieder zum Glück etwas so Wichtiges und Schönes wie "Ich hab dich lieb!" gesagt wird. Ich möchte dann wissen, wie das geschieht. Ist es eher im Stillen und irgendwie Verborgenen? Oder stehen Mama und Papa irgendwo auf dem Marktplatz und posaunen es laut und für wirklich jeden hörbar hinaus? Letzteres hat noch niemand erlebt. Jeder weiß, dass man für die wirklich wichtigen Worte, die einen richtig glücklich machen können, die Ohren spitzen muss. Solche Worte kommen nicht in dröhnenden Stiefeln daher. Sie sind wie ein kleines Pflänzchen, welches dem Aufmerksamen seine Schönheit und Pracht offenbaren. Meine Musik liebende Frau weiß übrigens, dass Felix Mendelssohn-Bartoldy die gewichtigen Worte mit ganz leisen Tönen gemalt hat. Es ist also durchaus sinnvoll, aufmerksam und still zu horchen auf die wichtigen Worte.
Mein Unterricht ist sehr oft eine Insel der Ruhe und Stille. Ich lege höchsten Wert auf gespitzte Ohren und wache Augen, welche mitbekommen, was geschieht. Das bin einfach ich! Mein Bedürfnis nach Stille wächst mit der Zahl meiner Lebensjahre und auch mit der meiner Berufsjahre. Und ich glaube, es funktioniert darum so gut, weil ich es lebe und von ganzem Herzen möchte. Dadurch werden viele Schülerinnen und Schüler aufmerksam und spüren, wie sehr sie selbst dieses Bedürfnis nach Ruhe und einer Atmosphäre der Aufmerksamkeit in sich tragen. Vielen wird bewusst – und sie sagen es auch –, wie sehr die Lautstärke, die auch in einer Reihe von Klassen herrscht, Stress verursacht. Und wie sehr diejenigen nerven, die sich über Lautstärke breitmachen, und dass das irgendwie auch eine Form von Gewalt ist, die vor allem diejenigen wahrnehmen, die eben in besagtem Wettbewerb um das lauteste Wort nicht mithalten können. Wer Ohren hat, der höre! In dem Roman "Stein und Flöte und das ist noch nicht alles" von Hans Bemmann wird dem "großen Brüller" der "Lauscher" geboren. Meine Frau machte mich auch auf diesen Umstand aufmerksam. Vielleicht ist es wichtig in einer Zeit des Brüllens Akzente des Lauschens zu setzen, damit die Lebensworte nicht untergehen. Der Religionsunterricht kann hier eine wichtigen Dienst leisten.
Ich mache mit den stärksten Gruppen Stilleübungen. Es geht um nichts anderes als darum, eine Minute lang zu hören. Die Reflexionen, die sich anschließen, sind manchmal phänomenal. Natürlich haben viele noch niemals die Wanduhr ticken gehört. Dass der Wind um das Haus weht, haben viele ebenfalls noch niemals wahrgenommen. Und spaßig ist es auch, den Magen des Mitschülers am anderen Ende des Raumes knurren zu hören. Jedem ist klar, dass man sehr viel mehr mitbekommt, wenn man hört. Und zum Hören muss man eben still sein. Dann kann das Hören zum Lauschen werden, welches immer mehr in die Lage versetzt, Wesentliches zu erfassen. Es gibt ja anschließend wieder genug Gelegenheit das Gehörte und Erlebte mitzuteilen. Aber dann hat man auch etwas mitzuteilen!
In besagter 6. Jahrgangsstufe soll ich mich alljährlich um neutestamentliche Wundergeschichten kümmern. Sehr gerne thematisiere ich die Heilung einer taubstummen Frau. Ich versuche, die Kinder spüren zu lassen, was es bedeutet, taubstumm zu sein. Zugleich versuche ich zu vermitteln, dass sie selbst Adressaten der Geschichte sind, dass sie mithin hier und jetzt in ihrem Alltag stattfindet. Zwei Gruppen werden gebildet, eine Gruppe, die ein Spiel aufführt, eine Gruppe, die beobachtet, was geschieht. In einer Gruppe mit 16 Schülerinnen und Schülern erhalten acht einen beliebigen Text. Sie werden aufgefordert, gleichzeitig und intensiv ihren Text zu lesen. Ein riesiger Klangkörper breitet sich aus. Niemand versteht etwas. Auf mein Zeichen hin verstummt einer nach dem anderen. Die ganze Zeit spreche ich leise einen Bibelvers, welcher erst zu verstehen ist, wenn niemand mehr seinen Text liest.
Aufmerksamkeit schaffen für wirklich Wichtiges
Der Religionsunterricht kann mit jungen Menschen die existentielle Aufgabe angehen, Aufmerksamkeit für die Worte, die wirklich wichtig und tragend sind, zu schärfen und damit Orientierung zu finden. Selbst als Religionslehrer würde ich damit nicht einmal die Erwartung verbinden, dass es sich um biblische Worte handeln muss, obwohl die schon bestechend sind. Es geht erst einmal um Aufmerken und sensibel werden, um einen Gewinn an Weitblick und somit um Horizonterweiterung. Ich verbinde damit die Hoffnung, dass ein wenig Misstrauen gesät wird gegenüber denen, die mit lauten Parolen und grellen Werbefloskeln an der Entmündigung der Menschen arbeiten und ihnen das Gefühl unterjubeln wollen, dass sie das, was sie sollen, tatsächlich auch wollen. Es geht aber auch um Momente des Glücks und eines ganz momentanen, wachen Lebens, um Menschwerdung also. In meiner 6. Klasse schließen die meisten inzwischen die Augen, wenn es eine Geschichte zu hören gibt. Eine Schülerin brachte es auf den Punkt und gab eine der schönsten Rückmeldungen, die ich je gehört habe: Die Stille ist wie ein Tor zur Fantasie. Wer will bestreiten, dass es eine wunderbare Aufgabe ist, den Kindern auch in der Schule solche Tore zu öffnen! Hier bietet der Religionsunterricht die Möglichkeit neben der so wichtigen Vermittlung von Kenntnissen und Wissen auch das Herz zu bilden und die Kinder ein klein wenig stark zu machen, bereichert durch Erfahrungen, die sonst vielleicht untergingen.
Entscheidend aber sind die Schülerinnen und Schüler selbst. Eine Schülerin meinte nach der letzten Stilleübung, sie sei in die Mathestunde sehr entspannt gegangen. Sie wolle Schweigeminuten auch zuhause praktizieren, meinte eine andere. Ein Schüler schrieb mir letztens: Ich wusste gar nicht, dass es in der Schule so leise sein kann. Gut so, habe ich ihm gesagt, dann kriegst du was mit!