Keine "Alternative" zum staatlichen Strafrecht

Strafen, Fristen, Täter: So geht das Kirchenrecht mit Missbrauch um

Veröffentlicht am 25.11.2019 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 
Strafen, Fristen, Täter: So geht das Kirchenrecht mit Missbrauch um
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Bonn ‐ Gerade im Zuge der MHG-Studie wurde intensiv über Strafen für Priester diskutiert, die sexuellen Missbrauch begangen haben. Katholisch.de erklärt, was das Kirchenrecht in solchen Fällen vorsieht – und wo die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zum staatlichen Recht liegen.

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Sobald ein Fall von sexuellem Missbrauch in der Kirche oder dessen Vertuschung öffentlich wird, kochen in Debatten die Emotionen hoch. Die einen fordern den "Rausschmiss" des Täters, die anderen fragen sich, warum die Kirche die Ermittlungen nicht ganz den staatlichen Stellen überlässt. Doch was sieht das Kirchenrecht in solchen Fällen genau vor?

Gerade nach Veröffentlichung der MHG-Studie wurde intensiv darüber diskutiert, wie Priester bei sexuellem Missbrauch zu bestrafen sind – und von wem. Nach katholischer Überzeugung hat Christus die Kirche als rechtlich verfasste Heilsanstalt mit eigener rechtlicher Hoheitsmacht auf Augenhöhe mit dem Staat gegründet. Aus diesem Selbstverständnis heraus nimmt sie für sich das Recht in Anspruch, Straftaten unabhängig von der Staatsgewalt zu verfolgen und zu sanktionieren. Allerdings kann die Kirche nur ergänzend bestrafen, da ein Täter selbstverständlich auch den staatlichen Gesetzen unterworfen ist. So werden aktuelle Fälle sowohl von der Staatsanwaltschaft als auch von kirchlichen Ermittlern untersucht; am Ende wird von beiden Institutionen ein Urteil gesprochen. Eine Entlassung des Priesters aus seinem Amt etwa steht allein der Kirche zu.

Schon nach dem kirchlichen Gesetzbuch (CIC) von 1983 war sexueller Missbrauch Minderjähriger eine Straftat. Während das staatliche Strafrecht allerdings verschiedene Arten und Schweregrade unterscheidet, kennt das Kirchenrecht den Tatbestand nur als Sittlichkeitsverstoß von Klerikern. Im entsprechenden Kanon heißt es: "Ein Kleriker, der sich auf andere Weise gegen das sechste Gebot des Dekalogs verfehlt hat, soll, wenn nämlich er die Straftat (…) an einem Minderjährigen unter sechzehn Jahren begangen hat, mit gerechten Strafen belegt werden, gegebenenfalls die Entlassung aus dem Klerikerstand nicht ausgenommen" (c. 1395 § 2 CIC). Nach dem Kirchenrecht – und das gilt bis heute – ist sexueller Missbrauch Minderjähriger also nur strafbar, wenn er von Klerikern begangen wird. Ursprünglich galt für solche Taten zudem eine Verjährungsfrist von nur fünf Jahren nach der Tat (c. 1362 § 1 Abs. 2 CIC).

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Papst Johannes Paul II. hat 2001 die kirchenrechtlichen Vorgaben im Hinblick auf sexuellen Missbrauch verschärft.

Doch nicht alle dieser Bestimmungen des kirchlichen Gesetzbuchs gelten heute noch. Im Zuge des Bekanntwerdens etlicher Missbrauchsfälle weltweit am Ende des 20. Jahrhunderts wurden die kirchenrechtlichen Vorgaben verschärft. Zum ersten Mal war dies 2001 der Fall: Mit dem Motu proprio "Sacramentorum sanctitatis tutela" hob Papst Johannes Paul II. die frühere Altersgrenze für sexuellen Missbrauch Minderjähriger von 16 auf 18 Jahre an. Zusätzlich stieg die Verjährungsfrist von fünf auf zehn Jahre an – nun beginnend mit dem 18. Geburtstag des Opfers. Die alte Verjährungsfrist von fünf Jahren sei bei einem Straftatbestand wie sexuellem Missbrauch an Minderjährigen völlig ungeeignet, begründet der Tübinger Kirchenrechtsprofessor Bernhard Sven Anuth die damaligen Anpassungen. "Wenn eine Tat nicht akut entdeckt wird, dauert es schließlich oft Jahre, bis Betroffene darüber sprechen und den Missbrauch anzeigen können."

Bis zu "Sacramentorum sanctitatis tutela" waren die Bischöfe als oberste Richter ihrer Diözesen für die Aufklärung und Bestrafung von Missbrauchstaten zuständig. In seinem Moto proprio hat Johannes Paul II. jedoch verfügt, dass jeder wenigstens wahrscheinliche Verdacht gegen einen Kleriker untersucht und das Ergebnis der Glaubenskongregation gemeldet werden muss, die dann über das weitere Verfahren entscheidet. "Damit hat der Papst auch auf das breite bischöfliche Versagen in der Verfolgung von Missbrauchstaten durch Kleriker reagiert", sagt Anuth.

Glaubenskongregation kann Verjährung aufheben

Eine weitere Verschärfung der strafrechtlichen Normen erfolgte 2010 unter Papst Benedikt XVI.: Die Verjährungsfrist wurde erneut erhöht von 10 auf 20 Jahre ab dem 18. Geburtstag des Missbrauchsopfers. Diese Regelung gilt nach wie vor. Konkret bedeutet dies, dass der sexuelle Missbrauch eines Kindes bis zur Vollendung des 38. Lebensjahres des Opfers kirchenstrafrechtlich verfolgt werden kann. Dies wird bereits seit 1998 in Fällen schweren sexuellen Missbrauchs auch vom deutschen Strafrecht so gehandhabt. Hier hat sich das Kirchenrecht gewissermaßen am staatlichen Recht orientiert. Außerdem wurde 2010 ergänzt, dass sich Kleriker auch dann strafbar machen, wenn sie Missbrauch an einem Erwachsenen begehen, dessen Vernunftgebrauch habituell eingeschränkt ist, zum Beispiel aufgrund einer geistigen Behinderung oder Demenz.

Auch im kirchlichen Recht gilt wie im staatlichen das Tatzeitrecht. Das bedeutet: Bei Änderung eines Gesetzes nach Begehen einer Straftat ist für den Täter das günstigere Gesetz anzuwenden (c. 1313 § 1 CIC). Eine rückwirkende Geltung der verschärften Normen für Taten, die vor 2001 geschehen sind, ist also eigentlich ausgeschlossen. Allerdings kann die Glaubenskongregation seit 2010 von der Verjährung "derogieren", sprich die Frist aufheben, und so die strafrechtliche Verfolgung von Taten doch noch ermöglichen, auch wenn dies rechtsstaatlich nicht mehr möglich wäre. Wenngleich er nachvollziehen könne, dass es Betroffenen oder deren Angehörigen Genugtuung verschaffe, dass der Täter doch noch belangt werde, hält Bernhard Sven Anuth die Aufhebung der Verjährung für problematisch: "Dadurch wird das Rechtsstaatlichkeitsprinzip unterlaufen." Hinzu komme, dass es keine nachvollziehbaren Kriterien gebe, in welchen Fällen die Verjährungsfrist außer Kraft gesetzt werde und in welchen nicht.

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Der Straftatbestand des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger ist im Kirchenrecht nach wie vor als Verstoß gegen den Klerikerzölibat ein reines Sittlichkeitsdelikt. "Das ist rechtssystematisch kein gutes Signal und wird auch dem nicht gerecht, was Betroffenen mit dieser sexualisierten Gewalt geschieht", kritisiert Anuth.

Doch Anuth sieht in der ganzen Angelegenheit grundsätzlicheren Revisionsbedarf. Denn der Straftatbestand des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger ist nach wie vor als Verstoß gegen den Klerikerzölibat ein reines Sittlichkeitsdelikt. Schutzzweck der Strafnorm ist auch nach ihrer Revision 2001 und 2010 kirchenrechtlich nicht die sexuelle Selbstbestimmung Minderjähriger. "Das ist rechtssystematisch kein gutes Signal und wird auch dem nicht gerecht, was Betroffenen mit dieser sexualisierten Gewalt geschieht", kritisiert er.

Sollte der kirchenrechtliche Straftatbestand also auch auf Laien ausgeweitet werden? Schließlich sind auch Mord oder Körperverletzung im Kirchenrecht Straftaten, die alle Katholiken begehen können, also auch Nicht-Geweihte. Dieser Schritt wäre zwar vielleicht ein rechtspolitisches Signal, praktisch aber nicht anwendbar, findet der Kirchenrechtler. "Am überzeugendsten wäre es, die Kirche würde das bestrafen, was sie auch wirklich kann, weil sie zum einen tatsächlich Zugriff auf die Täter hat und weil diese zum anderen ihre spezifische kirchliche Funktion zur Begehung der Tat missbraucht haben." Dabei denkt der Kirchenrechtler gleichermaßen an Kleriker und Ordensleute wie auch an in der Pastoral tätige Laien. Schließlich hat der sexuelle Missbrauch Minderjähriger im Raum der katholischen Kirche gerade aufgrund der Verbindung von körperlichem und geistlichem Missbrauch eine besondere Dimension.

Exkommunikation als sinnvolle Strafe?

Wenn es um die Sanktionierung von sexuellem Missbrauch geht, spricht das Kirchenrecht von "gerechten Strafen" bis hin zur Entlassung des Täters – der ja von Rechts wegen nur ein Geweihter sein kann – aus dem Klerikerstand. Was genau eine "gerechte Strafe" ist, liegt im Ermessen der zuständigen Richter. Viele Gläubige bis hin zu hohen Würdenträgern bringen immer wieder die Exkommunikation ins Spiel. Doch diese ist bloß eine Beugestrafe und bedeutet lediglich einen vorübergehenden Ausschluss von den Sakramenten oder von kirchlichen Ämtern. Die Strafe muss nach dem Kirchenrecht sogar zwingend aufgehoben werden, sobald der Täter seine Widersetzlichkeit aufgibt (c. 1358 § 1 CIC). Die Exkommunikation bewirkt also keineswegs die völlige Trennung der Institution vom Täter.

Bei einer Entlassung aus dem Klerikerstand sieht das anders aus: Der Täter verliert dabei alle mit dem Stand verbundenen Rechte und Pflichten, insbesondere den Unterhaltsanspruch. Die Strafe besteht hier vor allem im Verlust der wirtschaftlichen Existenzgrundlage. Andererseits verliert der Bischof dadurch aber auch die Kontrolle über den Täter. Deshalb halten einige Kirchenrechtler, darunter auch Anuth, die Entlassung aus dem Klerikerstand keineswegs für die immer beste Lösung. Wenn die Diözese den Betroffenen als Kleriker behält, kann sie ihm Auflagen bezüglich seines Wohnsitzes machen und ihm beispielsweise zusätzlich als Buße eine Gehaltsminderung zugunsten eines Opferentschädigungsfonds auferlegen. So kann ein Bischof zumindest eine gewisse Kontrolle ausüben. "Das wird der Verantwortung, die er einst für diesen Kleriker übernommen hat, vielleicht eher gerecht – und dient den Kindern zum Schutz", sagt Anuth.

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Eine generelle Meldepflicht von Fällen sexuellen Missbrauchs an den Staat hält Anuth eher für kontraproduktiv.

Anders als etwa Frankreich verpflichtet der deutsche Staat seine Bürger nicht dazu, bekannt gewordene Missbrauchsfälle an die Behörden zu melden. Daher hat sich auch die Kirche in Deutschland nicht dazu verpflichtet, die Staatsanwaltschaften über Fälle in Kenntnis zu setzen. Dies sei auch nicht immer im Sinne der Betroffenen, ist Anuth überzeugt. "Viele Opfer wollen sich ein Verfahren, in dem sie dann als Zeuge aussagen müssten, nicht antun. Sie wollen einfach nur die Kirche wissen lassen, was geschehen ist." Die Kirche könne zwar Betroffene ermuntern, den sexuellen Missbrauch anzuzeigen – wenn diese nicht dazu bereit sind, müsse sie die Entscheidung jedoch in der Regel respektieren. "Nur wenn es um akute Taten geht, bei denen Wiederholungsgefahr besteht oder es weitere Opfer geben könnte, muss gegebenenfalls auch gegen den Willen des Betroffenen Anzeige erstattet werden", so Anuth.

Unabhängig von aller durchaus berechtigten Kritik am geltenden Kirchenrecht sei allerdings auch die Frage entscheidend, wer für die Vertuschung von Missbrauchsfällen Verantwortung übernimmt. "Danach wird meines Erachtens noch zu wenig gefragt", findet der Professor für Kirchenrecht. Es sei ja keineswegs so, dass alle, die früher Verantwortung getragen haben, schon tot seien. "Zumindest die, die noch leben, sollen für ihr Handeln einstehen oder zumindest deren Nachfolger Ross und Reiter nennen." Der ehemalige Hamburger Erzbischof Werner Thissen und der Limburger Altbischof Franz Kamphaus haben diesen Schritt bereits getan und eigene Versäumnisse eingeräumt. Auch der Münsteraner Bischof Felix Genn hat inzwischen bekannt, Fehler im Umgang mit Missbrauchstätern begangen zu haben.

Von Matthias Altmann