Kann man das Gebet nennen?
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Ich betrete mit einem Schmunzeln das Klassenzimmer. Ich bin gespannt, wie meine Schüler reagieren werden, denn im Gepäck habe ich neben einer leistungsstarken Bluetooth-Box ein Thema, von dem ich weiß, dass es sie irritieren wird. Und das ist für eine neunte Klasse manchmal genau das Richtige.
Steif, einschläfernd, anstrengend und nur für alte Leute
Zunächst lasse ich die Gruppe mithilfe von Impulskärtchen zum Thema Gebet miteinander ins Gespräch kommen. Schnell wird klar: In meiner Gruppe wird zu Hause kaum gebetet. Bekannt und vertraut sind den meisten noch Tischgebete mit den Eltern oder Elternteilen, diese werden als mehr oder weniger lästig empfunden (die Gebete, nicht die Eltern). Das Gebet im Gottesdienst wird noch kritischer bewertet: als steif, einschläfernd, anstrengend und nur für alte Leute. Als Synonym für die Heilige Messe fallen die Begriffe Silberlöckchentreff und – bezugnehmend auf den häufigen Wechsel zwischen Stehen, Knien und Sitzen – Aerobic-Stunde. Die Jugendlichen reflektieren, dass sie sich beim Gebet komisch vorkommen, dass es sich eher wie ein Selbstgespräch anfühlt und: dass sie schon ziemlich lange nicht mehr gebetet haben. Daraufhin tragen sie die letzten Situationen zusammen, in denen sie sich bewusst und freiwillig an Gott gewendet haben: Vor Klassenarbeiten, bei Versagensängsten, in der Sorge um die Liebsten, bei Unfällen, in der Erfahrung von Krankheit und Tod.
Ich greife den Begriff Aerobic-Stunde auf und frage die Jugendlichen, ob es einen Sinn hinter den verschiedenen Gebetshaltungen gibt. Da die Antworten erstaunlich mager ausfallen, schlage ich den Schülern spontan vor, die verschiedenen Gebetshaltungen mal an Ort und Stelle auszuprobieren. Für jeweils eine halbe Minute stehen, sitzen und knien sie und reflektieren hinterher ihre Wahrnehmung. Trotz oder wegen ihrer wenigen Gebetserfahrung spüren die Jugendlichen erstaunlich sensibel nach, welche Empfindungen die verschiedenen Haltungen bei ihnen auslösen: Dankbarkeit, Ehrfurcht, auf Augenhöhe mit Gott Sein, Aufmerksamkeit, Demut, … Die vermeintliche sonntägliche Sportstunde dröstelt sich auf in eine Fülle von verschiedenen Formen mit Gott ins Gespräch zu kommen. Und irgendwie sind alle ok.
Wir machen an dieser Stelle einen inhaltlichen Cut und sammeln Vorkenntnisse zum Thema Punkrock. Beim Großteil der Gruppe beschränken sich diese auf genau zwei Punkte: laute Gitarren und schrille Frisuren. Aber ein Schüler beschreibt eine Protestbewegung, die die anderen aufhorchen lässt: da geht es ums Anders-Sein, um Auflehnung gegen das bestehende System, um ein Sich-Sperren gegen Konformitäten. Und das alles mit Musik? Und was hat das mit dem Christentum zu tun?
Eine Hörprobe muss her. Es wird laut. Officer Negative schreit uns "Satan‘s Gonna Lose" entgegen. Wir verstehen kein Wort. Ich teile den Songtext aus und wir hören nochmal hin. Irritiertes Lachen auf Seiten meiner Schülerschaft, ich reibe mir innerlich die Hände und freue mich auf die nun folgende Diskussion. Würde Officer Negative vor meiner Schüler-Jury auftreten: rein musikalisch hätte er keine Chance auf einen Recall. Die Neuntklässler stört das vermeintlich Aggressive in diesem Song, die Wut, das unverständliche Geschrei. Keiner würde diese Musik privat hören. Und was sagt uns der Text? In etwa: "Komm zu mir Jesus, ich brauche deine Hilfe! Satan greift mich an! Ich hasse Satan! Ich liebe Jesus! … Satan, du wirst meine Freunde und Familie nicht bekommen, du wirst mich nicht bekommen!" Wir reflektieren gemeinsam, dass Satan alles Mögliche sein kann: Das personifizierte Böse kann dabei ebenso gedacht werden wie die Abhängigkeit von Drogen, die Enttäuschung über eine schreckliche Kindheit, Arbeitslosigkeit, Ohnmacht in der Partnerschaft oder der steigende Rechtsdruck in Dresden und ganz Deutschland. In Angesicht dieser Hilfslosigkeit kann man verstehen, dass der Sänger seine Zeilen nicht im seichten Pop-Stil ins Mikrophon haucht, sondern seiner Verzweiflung und Angst, vielleicht aber auch seinem Mut laut und bestimmt Luft macht, indem er sie herausschreit.
Wir betrachten ein Foto von einem Live-Auftritt der Band: ob hier ein Gottesdienst oder Konzert gefeiert wird ist unklar, vielleicht ist es beides in einem. Es befinden sich ausschließlich junge Leute im Publikum, die Gesichter sind erregt, alle sind komplett involviert. Man hat allein beim Betrachten des Fotos das Gefühl, dass hier etwas Großes passiert.
Und doch sträuben sich meine Schüler, das eben gehörte Lied als Gebet zu bezeichnen: "Das ist doch viel zu laut, viel zu unheilig!" Leider reichen 90 Minuten Unterricht mal wieder nicht aus, um an dieser Stelle die Bibel aufzuschlagen und in Ruhe bei Hiob nachzulesen, dass Gebet durchaus sehr "laut und unheilig" sein kann. Auch in der Heiligen Schrift finden wir nicht nur Lobpreisgebete, Hymnen und artige Psalmen in Dauerschleife, auch die Bibel kennt anklagende, enttäuschte und wütende Gebete. Und das zu Recht! Es ist erlaubt und völlig ok, so mit Gott zu reden. Denn Gott hält das aus! Er ist der ICH BIN DA, und zwar in allen Situationen, Höhen und Tiefen unseres Lebens. Auch den allerschwärzesten.
Eine Schülerin stellt sich laut die Frage, ob es uns vielleicht zu gut geht, um die Form des Punkrock-Gebets zu verstehen. Vielleicht muss man dafür im Leben erst ziemlich weit nach unten gefallen sein?
Nachdenkliche Schüler
Und wenn das so ist, können dann Bands wie Officer negative ein Vorbild für uns für eine ehrliche Gottesbeziehung sein?? Ist das vielleicht genau unser Problem, dass wir uns nicht erlauben, unverstellt, echt und authentisch über und vor allem mit Gott zu reden?
Ich kann nur von meinem Eindruck erzählen, dass nach dieser Stunde sehr nachdenkliche Schüler den Raum verließen, von denen sich viele noch einen weiteren Songtext von meinem Tisch mitnahmen - hören Sie doch selbst mal rein!