Warum nur wenig über missbrauchte Ordensfrauen bekannt ist
2010 sorgte die Bekanntmachung von Missbrauchsfällen an einem Jesuiten-Kolleg in Berlin dafür, dass der Missbrauch in der katholischen Kirche in Deutschland zu einem großen Thema wurde. Seitdem trauen sich immer mehr Opfer, ihre Fälle zu melden. Spätestens nach Veröffentlichung der MHG-Studie 2018 überschlagen sich die Meldungen über Geistliche, die selber Minderjährige missbraucht oder Fälle vertuscht haben. Was erst mit der Zeit bekannt wurde: Auch Ordensfrauen und Frauen im kirchlichen Kontext leiden seit Jahren – nicht nur, weil sie Missbrauch in jeglicher Form erlebt haben, sondern auch weil sie nicht darüber sprechen können, wollen oder dürfen.
Der Missbrauch, den die Opfer durchmachen müssen, ist in verschiedene Formen aufgeteilt, erklärt die Theologin, Psychologin und Vorsitzende der Deutschen Ordensobernkonferenz (DOK) Schwester Katharina Kluitmann. Besonders präsent in den Medien sei der sexuelle Missbrauch. Doch gerade im kirchlichen Kontext gehe es darüber hinaus – mit emotionalem und geistlichem Missbrauch: "Geistlicher Missbrauch oder spiritualisierte Gewalt – wie auch immer man das nennt – heißt, dem anderen den intimen Bereich der Gottesbeziehung zu nehmen." Der Täter nutze eine Seelsorgsbeziehung dafür aus, emotionale Bedürfnisse zu befriedigen. Er fühle sich dadurch bewundert und geliebt, habe das Gefühl, gebraucht und geschätzt zu werden: "Das kann extreme Formen annehmen. Plötzlich muss der Begleitete, beispielsweise eine Ordensfrau, für alles nachfragen." Statt in eine größere Freiheit würden die Opfer in eine Abhängigkeit geraten. "Es fallen Sätze wie 'Wenn du dich nicht jede Woche meldest…' oder 'Wie kannst du eine Entscheidung treffen, die ich nicht abgesichert habe?'." Dadurch stelle sich der begleitende Teil, der zum Täter wird, mit Gott gleich, erklärt Schwester Katharina.
Zurückzuführen sei jeder Missbrauch – sei er sexueller, emotionaler oder geistlicher Art – immer auf einen Machtmissbrauch. "Es ist nie ein Verhältnis auf Augenhöhe", sagt Kluitmann. In missbräuchlichen Strukturen stehe eine Person in einer hierarchisch höheren Position und nutze diese aus, obwohl sie die andere Person eigentlich schützen müsse. Bei Priestern komme eine spirituelle Aufladung hinzu. Dabei hätten die Täter meist ein geringes Selbstwertgefühl, würden es nach außen aber mit einem überhöhten Selbstwertgefühl verdecken. Was sie sich nicht auf gleichberechtigtem Weg verschaffen könnten, holten sie sich durch den Missbrauch. Besonders tragisch sei, dass einige Menschen für Missbrauch empfänglich seien, da sie bereits aus missbräuchlichen Strukturen kommen, erklärt Kluitmann: "Treten sie in das nächste missbräuchliche System ein, merken sie es zu spät."
Der Fall Doris Wagner
Auch Doris Wagner gehört zu den Opfern spiritueller und sexueller Gewalt. Als junge Frau tritt sie 2003 in die Gemeinschaft "Das Werk" ein und erlitt Missbrauch in sexueller und spiritueller Form. 2011 verlässt sie den Orden als innerlich gebrochene Frau. Drei Jahre später macht sie ihre Geschichte in einem Buch publik. Doch weder Wagners ehemalige Gemeinschaft noch das Vatikangericht glauben ihr. Sie kämpft trotzdem weiter, veröffentlicht weitere Bücher, hält Vorträge und tritt in der Öffentlichkeit für ihre Sache ein. Viele Frauen schreiben ihr, denn sie haben Ähnliches durchgemacht. Anfang 2019 spricht sie öffentlich mit dem Wiener Kardinal Christoph Schönborn über das, was sich ihrer Ansicht nach in der Kirche ändern müsse. In diesem Kontext thematisiert sie auch die Abschaffung des Zölibats, die Frauenweihe und die Akzeptanz wiederverheirateter Geschiedener oder Homosexueller. Die hierarchischen Strukturen in der katholischen Kirche stellt Wagner immer wieder in Frage.
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Wagner habe vor allem das Thema des geistlichen Missbrauchs an (Ordens-)Frauen überhaupt öffentlich gemacht, sagt Kluitmann. Nicht nur das: Schwester Katharina weiß, dass Wagner, die nach einer Heirat mittlerweile Doris Reisinger heißt, viele Frauen dazu ermutigt hat, sich ebenfalls zu melden. Das Geschehene hat auf die Opfer schwerwiegende Auswirkungen, die unterschiedlich ausfallen können. Dazu gehören Depressionen, posttraumatische Belastungsstörungen, ein hohes Misstrauen gegenüber anderen Menschen, ein Verlust an Vertrauen in Gott und Schwierigkeiten in Bindungen und Beziehungen. "Und natürlich ist für Menschen, die sexualisierte Gewalt erleiden mussten, das Ausleben von Sexualität eventuell ein Problem", ergänzt Kluitmann. Sie appelliert, in diesem Kontext nicht nur Ordensfrauen, sondern auch andere Frauen und Männer im Blick zu haben.
Über Jahrzehnte hätten die Opfer Scham- und Schuldgefühle: "Das ist ein psychologischer Mechanismus, der teils auch eine Schutzfunktion hat." Das sei der Grund, warum sich viele Frauen nicht melden. Doch selbst wenn sie sich trauten, werde ihnen meist nicht geglaubt. "Hinzu kommt eine kollektive Scham in den Gemeinschaften nach dem Motto: 'Das darf doch einer bei uns nicht passieren.' Da haben Ordensobere manchmal nicht gut reagiert", sagt Kluitmann.
Was weiß man über missbrauchte Ordensfrauen?
Tatsächlich sei über Missbrauch an Ordensfrauen "sehr wenig" bekannt. Bereits in den 90er Jahren verfasste die Ordensfrau Maura O’Donohue einen Bericht über missbrauchte Ordensfrauen und sendete ihn an den Vatikan, die Wirkung sei allerdings "im Sand verlaufen". Das Thema habe zu lange als Tabu gegolten. In den Gemeinschaften herrsche eine Ungleichzeitigkeit: Während bei den einen das Thema Sexualität offen gehandhabt werde, sei es in anderen weiterhin eine Hürde. Zahlen gibt es nicht. Die DOK versuche zwar, über eine breit angelegte Erhebung mehr zu erfahren, Dunkelziffern könnten dadurch kaum herauskommen, denkt Kluitmann.
Trotzdem: Der Stein kommt ins Rollen. Anfang des Jahres bestätigte Papst Franziskus den Missbrauch von Ordensfrauen durch Geistliche und signalisierte, dagegen vorgehen zu wollen. Neben Wagners Büchern sorgte die Arte-Dokumentation "Gottes missbrauchte Dienerinnen" für viel Aufsehen. Im September dieses Jahres veranstalteten die Deutsche Bischofskonferenz, Frauenverbände und die DOK die Tagung "Gewalt gegen Frauen in Orden und Kirche" in Siegburg mit 120 Betroffenen. Einige Frauen hätten in dem geschützten Rahmen immerhin über das Thema reden können, andere hingegen trauen sich nicht zu, in die Öffentlichkeit zu gehen. Die Gefahr der Retraumatisierung sei zu hoch, berichtet Kluitmann. Darüber hinaus forderten katholische Frauenverbände anlässlich des "Internationalen Tages gegen Gewalt an Frauen" am 25. November die Deutsche Bischofskonferenz auf, durch Priester und Ordensleute missbrauchte Frauen und Ordensfrauen zu unterstützen.
Doch ist diesen Frauen, die Unvorstellbares durchmachen mussten, zu helfen? "Da gibt es eine große und eine kleine Antwort", sagt Kluitmann. Die große Antwort: "Unser Machtsystem in der Kirche ist ganz neu zu bedenken: die Hierarchie, die Macht, das Weiheamt." Zu schaffen sei das "nicht mal eben so, auch nicht durch einen 'synodalen Weg'". Die kleine Antwort: Jeder könne etwas tun. Zeige man durch eine einfache Fürbitte oder einen Hinweis am schwarzen Brett Solidarität mit den Frauen, könne sie das ermutigen.
Frauenordination ist kein Zaubermittel
Diese Gesprächsbereitschaft sei wichtig. Schwester Katharina sei erzürnt, wenn eine Ordensoberin beklagt, sie könne nach einem solchen Gespräch drei Nächte nicht schlafen: "Die Betroffenen können drei Jahrzehnte nicht schlafen, wenn sie Pech haben." Fragt man Kluitmann, ob eine Frauenordination die Lösung aller Probleme sei, sagt sie: "Ich glaube nicht an so ein Zaubermittel." Sie denke aber, dass eine erhöhte Einbindung von Frauen in Leitungsstrukturen der Kirche das Gesprächsklima, die Atmosphäre und die Themen in der Kirche verändern würde. Das sei kein Zeitgeist, sondern vom Evangelium geboten.
Einige "unter den Bischöfen, im Klerus, in den Orden, unter den Gläubigen – ob männlich oder weiblich" – hätten verstanden, worum es geht: um Menschen, nicht um ein System. Andere würden das Thema verschweigen, um das System zu schützen. Doch es gebe noch einen weiteren Grund: Wer eine Öffnung des Themas zu verhindern versucht, sei vielleicht selbst involviert – auf der einen Seite als Opfer oder auf der anderen als Täter oder Vertuscher: "Die wenigsten Menschen sind in diesen Themen neutral." Die Ordensfrau gibt dabei zu bedenken, dass der Großteil der Täter Männer sind, mit der Aufarbeitung sich aber vor allem Frauen beschäftigen: "Es sind mal wieder die Frauen, die den Dreck der Männer wegmachen."