Was ist das spezifisch Christliche an meinem Reli-Unterricht?
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Ich werde manchmal gefragt, was das spezifisch Christliche, ja, was das Katholische an meinem Religionsunterricht sei. Es sind Situationen, in denen ich höchste Aufmerksamkeit entwickle, um herauszufinden, was meinen Gesprächspartner wohl zu seiner Frage veranlasst. Nicht, dass sie in die Richtung geht, die mich an das berühmte Kästner'sche Diktum erinnert: "Wo bleibt das Positive?" Ich gestehe, dass ich solcherlei Fragen nicht besonders schätze, zumal ich tagtäglich so viele inspirierte, nachdenkliche und auch durchaus glückliche Kinder erlebe. Ich möchte diese Adventskolumne den besagten Fragenden widmen – und einem der Großen der Kolumnenkunst (doch davon später).
In meinem vierten Schuljahr war vorletzte Woche ein Schüler am Boden zerstört. Seine Eltern, so berichtete er mir, hätten ihm angedroht, er müsse bei andauerndem Chaotentum in schulischen Belangen Heiligabend auf seinem Zimmer verbringen. Im fünften Schuljahr haben wir bei der Besprechung des Gleichnisses vom guten Hirten überlegt, was Menschen verloren gehen lässt. Abgesehen von dem beglückenden Umstand, dass von 27 Kindern 25 sehr gut und auf Anhieb verstehen, worum es in einer solchen Geschichte geht, bekannte sich eine Schülerin als verloren zwischen den beiden Wohnungen ihrer getrennten Eltern und der Erfahrung, kein Zuhause mehr zu haben. Was ist da angesagt im Religionsunterricht? Was ist angesagt angesichts täglich spürbarer und allzu oft auch ausgesprochener Nöte und Ängste der Kinder wie der Jugendlichen?
Gott ist immer da? Für Kinder ist das eine Behauptung
Dass Wunder "machtvolle Zeichen des Handels Gottes" sind, "Dynamis-Erfahrungen" – das weiß ich natürlich auch. Wie christlich und bibelfest könnte ich hier meinen Unterricht gestalten! (Es gibt hierzu übrigens ein vorbildliches Heft von "Bibel und Kirche", das leider vergriffen ist, aber bei einem Anruf im Büro des Katholischen Bibelwerks möglicherweise als Datei auf den Weg geschickt wird.) Aber für die besagten Kinder ist die Botschaft, dass Gott immer für sie da ist, dass er wunderbar an uns Menschen handelt beziehungsweise handeln möchte, zunächst einmal nur eine Behauptung. Die kann ich aufstellen, an die Tafel schreiben und in Hefte und Mappen eintragen lassen. Und dann? Ich könnte auch einen Test schreiben lassen, in dem ich das Abgeschriebene noch einmal aufschreiben lasse. Ist das das "spezifisch Christliche" am Religionsunterricht?
Ich habe den Äußerungen der Schülerin und des Schülers Raum im Unterricht gegeben und auf den Tafelanschrieb verzichtet. Die machtvollen Taten haben die Mitschüler jeweils selbst vollbracht – und meiner Überzeugung nach als sichtbare und erfahrbare Erfüllung der göttlichen Verheißung. Sie haben Trost gesprochen, die Schülerin mit ihrem Nicht-Zuhause in den Arm genommen und somit erfahrbar gemacht, dass niemand in der Gruppe allein dasteht. Ist möglicherweise das Spezifische am Ende das ganz banal Menschliche?
Ich vertrete diese Ansicht entschieden. Das spezifisch Christliche ist das Menschliche. Spezifisch Christliches zu unterrichten bedeutet, Orte der Menschlichkeit zu eröffnen und von diesen Orten aus Verknüpfungen zu den biblischen und theologischen Inhalten herzustellen. Ich berufe mich dabei auf das spezifisch Christlichste, welches ich mitzuteilen habe, die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus. In der jetzigen Adventszeit geht es meiner Meinung nach darum, sich einzustellen auf ein Ereignis, welches mir wie jedes Jahr erneut die Frage stellt, inwieweit ich selbst dazu bereit bin, Mensch zu sein. Gott wird Mensch. Das ist für mich die Aufforderung und zugleich die Ermächtigung dazu, selbst Mensch zu sein und an manchen Tagen erst zu werden. Denn Gott hat das Menschsein offenbar so hoch angesetzt, dass er sich nicht gescheut hat, selbst Mensch zu werden. Mensch sein genügt also offensichtlich; es ist wohl das, worum es geht. Wenn das nicht Mut macht! Ich muss mich nicht in heroische Höhen aufschwingen, keinen Titanen der Kirchengeschichte nacheifern. Und wie Gott werden muss ich schon gar nicht. Im Gegenteil: Er ist ja wie ich geworden. Daraus schließe ich, dass es vollkommen genügt, Mensch zu sein und das zu tun, was in meiner Macht steht. Bei einer solch frohen Botschaft kann im Unterricht auch mancher Tafelanschrieb zugunsten einer hautnah erlebbaren Gemeinschaft ungeschrieben bleiben.
Frei nach Kästner: Wo bleibt die Ausgewogenheit? Ich weiß, dass ein sehr großer Teil der Worte Jesu Gerichtsworte sind. Aber meine Überlegung geht nicht in Richtung Ausgewogenheit, sondern in Richtung Versöhnung und Ausgleich – so fragmentarisch das auch immer ausfallen mag. Für die Gerichtsworte im Fall meiner genannten Schüler sorgen nämlich andere, auch schon auf dieser Erde. Da kann ich getrost einen unterscheidenden Akzent setzen.
Das Erleben eines Ortes, an dem man sein kann, ist immer auch eine Arbeit gegen die Angst und damit etwas sehr Adventliches. Breitet sich doch in diesen Wochen wieder das anfänglich bescheidene Licht beharrlich gegen die Dunkelheit aus. Ich möchte diese Kolumne neben den oben genannten Fragenden auch Harald Martenstein widmen, der zuletzt im Zeit-Magazin bekannt hat, dass es ihm immer schwerer falle, gegen die Angst vor dem Shitstorm, der sich gegen die Meinungsfreiheit richte, zu kämpfen. Ich finde, dass es eines Zeichens der Solidarität mit den Journalisten, die mit sehr viel Mut und Beharrlichkeit für das freie Wort, den herrschaftsfreien Diskurs, für die Bewahrung der Menschlichkeit – und letztlich für die Wahrheit eintreten. "Man darf auf keinen Fall vor der Angst kapitulieren“, schreibt Martenstein. Das Licht des Advents, das Mutmach-Licht, sagt mir, dass man nicht kapitulieren muss.