Das erste Weihnachten ohne Mama
Weihnachten ist das Fest der Familie, heißt es oft. Menschen reisen mehrere Hundert Kilometer, um diese besondere Zeit mit ihren Liebsten zu verbringen. Während die einen sich auf die Feiertage freuen, kann der Gedanke daran für andere schmerzliche Erinnerungen wecken. Denn in letztem Jahr war alles anders. Da war jemand noch unter uns: Die Mutter, der Vater, der Partner, die Partnerin, ein Großelternteil, ein Freund – oder sogar das eigene Kind. Das erste Weihnachten ohne einen nahestehenden Menschen wiegt immer besonders schwer – unabhängig davon, ob seit dem Tod zehn Monate oder zwei Wochen vergangen sind.
Dass Weihnachten sehr eng mit Familie in Zusammenhang gebracht wird, erschwere die ohnehin belastende Situation umso mehr, erklärt Norbert Mucksch vom Bundesverband Trauerbegleitung. In dieser Situation fühlten Trauernde sich alleine gelassen. Denn Weihnachten sei ein exklusives, ausschließendes Fest, sagt er: "Sie gehören nicht mehr dazu, beispielsweise wenn sie in einer Paarbeziehung lebten und der Partner gestorben ist."
Dabei sei zu unterscheiden, wer gestorben ist. Besonders dramatisch sei etwa, wenn der Partner oder die Partnerin stirbt. Mucksch nennt ein Beispiel: "Ein Lebenspartner stirbt durch eine aggressive, schnell fortgeschrittene Krebserkrankung mit 45 Jahren und hinterlässt im Familiensystem drei Kinder." Bleibt ein Vater in dem Fall zurück, sei er mit den Erwartungen der Kinder konfrontiert. "Das Weihnachtsfest im Jahr zuvor hatte vielleicht noch eine völlig andere Funktion und Bedeutung. Die Menschen erleben sich in einer neuen Situation." Auch die Umstände spielten eine Rolle: "Ist der Mensch nach einer langen Erkrankung gestorben oder durch einen plötzlichen Herz-, Unfalltod oder sogar Suizid?"
Trauer: Was hilft und was tut gut?
Menschen, die einen Angehörigen verloren haben, erleiden tiefste Trauer und Verzweiflung. Wie erleben diese Menschen die Trauer? Und wie finden sie wieder ins Leben zurück? Welche Hilfen gibt es? Das Dossier beantwortet diese und andere Fragen.Vollkommen anders ist der Tod eines kleinen Kindes. Aus der religiösen Perspektive feiern Christen die Geburt Christi. "Da geht es um Geburt und Menschwerdung. Wir beten ein Kind an", sagt Mucksch. Es entsteht etwas Neues: Weihnachten nimmt das Symbol des Kindes besonders in den Blick. Der Trauerbegleiter erzählt von einem Elternpaar, das sein Kind als Frühchen verloren hat. "Sie können sich nicht vorstellen, der Einladung ihrer Familie zu folgen". Zu sehr herrsche dort eine "heile Welt."
Bei einer innigen Beziehung zum Großvater könne auch dessen Tod problematisch sein. Jedoch können Menschen da in Anbetracht des Alters auf ein vollendetes Leben zurückblicken. Aus christlicher Perspektive haben Trauernde nach jedem Tod die Hoffnung, der oder die Verstorbene möge nach einem vollendeten Leben bei Gott gut aufgehoben sein. "Hat man dieses Bild, kann man vielleicht sagen: 'Unser Opa ist zwar verstorben, aber er ist immer noch bei uns'", sagt Mucksch.
Trotzdem hat das erste Weihnachtsfest – so wie alle Feier- und Gedenktage im ersten Jahresverlauf – ohne einen lieben Menschen eine besondere Schwere. Mit dieser Situation geht jeder anders um. Mucksch erinnert sich an einen jungen Mann, der seine Frau verloren hat. Heiligabend feierte er trotzdem wie gewohnt mit seinen und ihren Eltern. Den Platz für die Verstorbene ließen sie bewusst frei und deckten den Tisch für sie mit. "Das ist eine große Leistung, wenn man das hinkriegen kann", findet der Trauerbegleiter. Genauso könne es aber sein, dass Trauende dies nicht wollen oder (noch) nicht können – das gelte es zu akzeptieren.
Ein Weihnachtsbaum auf dem Grab
Er erzählt von einem Ritual aus dem Hause der Familie Bonhoeffer, das er mit seiner Familie selbst praktiziere: An einer sichtbaren Stelle des geschmückten Weihnachtsbaumes schneiden sie einen Zweig ab, sodass die Wunde deutlich zu sehen ist. Den Zweig bringen sie auf den Friedhof und legen ihn als Schmuck auf das Grab. Ohnehin könne es helfen, zu Weihnachten – eventuell mit Unterstützung von Familie oder Freunden – auf den Friedhof zu gehen, um das Grab zu besuchen. Trauer brauche Ausdruck, damit sie sich nicht in einem Menschen festsetzt, erklärt der Trauerbegleiter. Dadurch würden sie ihr Innerstes nach außen bringen und den Schmerz deutlich machen. "Wenn dazu gehört, den Lieblingswein eines verstorbenen Menschen am Grab zu trinken, kann das auch eine Form sein." Kleine Erinnerungsorte in der Wohnung seien oft ebenso hilfreich, beispielsweise ein Foto mit einer Kerze. Doch damit sollte man nicht übertreiben, um weiterhin "Platz zum Atmen" zu haben.
Viele Trauende durchbrechen zu Weihnachten die familieninternen "Gesetzmäßigkeiten" und machen etwas völlig anderes. Sie halten es nicht aus, Weihnachten wie gewohnt zu feiern und setzen sich etwa nicht an den gewohnten Familientisch. Das sei das "Grausame des Weihnachtsfestes", sagt Mucksch. Denn diese Rituale hätten etwas Mächtiges, würden seit Jahrzehnten so tradiert und legten die Menschen fest, was gerade für Trauernde ein großes Problem darstellen könne. Unterbrechungen seien oft das Richtige: "Ich höre nicht auf das, was man immer so gemacht hat, sondern ich tue, was für mich richtig ist – vielleicht auch unter Inkaufnahme, dass ich jemanden enttäusche."
Für Angehörige von Trauernden ist es schwierig, mit dieser Situation umzugehen. Manchmal wissen sie nicht, wie sie sie darauf ansprechen sollen oder haben Angst, etwas Falschen zu sagen. Mucksch erklärt, es helfe, offene Angebote zu machen, die nicht bedrängen. "Wenn du Lust hast, komm doch einfach mal vorbei; wir trinken Kaffee" könnte ein solcher Satz sein. Oder – aber dann müsse das ernst gemeint sein: "Solltest du allein sein an den Feiertagen, wir haben eine offene Tür." Zur Vorsicht ruft der Trauerbegleiter bei Sätzen auf wie: "Ich bin immer für dich da." Das könne niemand einlösen. Stattdessen: "Versuch mich zu erreichen und wir finden einen Termin."
Mucksch selbst finde die Heilung des blinden Bartimäus aus dem Markus-Evangelium (10,46-52) passend. Jesus sage nicht: "Ich helfe dir und mache dich gesund." Er stelle die Frage: "Was willst du, dass ich dir tue?" Angehörige dürften sich ihre Hilflosigkeit eingestehen, um den Trauernden zu fragen, wie sie ihm helfen können. Damit baue man diese Menschen auf und sehe trotz des großen Schmerzes ihre Würde, findet Mucksch. Denn der Tod hinterlässt oft eine tiefe seelische Wunde.