Was unsere Weihnachtslieder erzählen – Teil 3

Dritter Advent: Tochter Zion, freue dich

Veröffentlicht am 15.12.2019 um 12:01 Uhr – Lesedauer: 

Freiburg ‐ Zunächst ein Londoner Opernhaus, dann ein Wiener Palais und schließlich ein bürgerlicher Salon in Erlangen: Das Weihnachtslied "Tochter Zion, freue dich" hat einen langen Weg zurückgelegt, bevor es Einzug in die Gottesdienste erhielt. Und doch passt es perfekt zum 3. Adventssonntag "Gaudete".

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Die adventliche Freude ist eine besondere Spielart des Sich-Freuens: kein überschäumender Jubel, sondern eher innige und erwartungsvolle Vorfreude. Besonders erlebbar wird dies am dritten Adventssonntag "Gaudete", der die Freude bereits im Namen trägt. Und diese Freude ruft geradezu nach Klängen!

Uraufführung der Musik im Londoner Opernhaus

Sehr schön passt an "Gaudete" das mehrstimmig im Gebet- und Gesangbuch Gotteslob enthaltene "Tochter Zion, freue dich!" – ein Lied mit einer sehr bewegten und bewegenden Geschichte, die gut dokumentiert ist. Ganz verschiedene Orte sind dabei im Spiel: zunächst ein Londoner Opernhaus, dann ein Wiener Palais und schließlich ein bürgerlicher Salon in Erlangen.

In London beginnt die "Karriere" dieses Liedes. Seine festlich schreitende Musik erklang erstmals am 9. März 1748 im "Royal Opera House" im Londoner Stadtteil Covent Garden. Damals dirigierte dort der berühmte Barockkomponist Georg Friedrich Händel (1685–1759) sein neues Oratorium "Joshua". Jener israelitische Heerführer hat als Nachfolger des Mose das jüdische Volk nach Kanaan geführt. Händel war ein taktisch gewiefter Komponist. Deshalb hat er die Erfolgsnummer "Seht! Er kommt, mit Preis gekrönt" ("See the conqu‘ring hero comes") aus "Joshua" drei Jahre später in die neue Fassung seines bereits früher komponierten Oratoriums "Judas Maccabäus" eingefügt. Auch hier passt der Text sehr gut zum feierlichen Einzug eines siegreichen Retters:

"Seht! Er kommt, mit Preis gekrönt,
feiert, Posaunen, den Empfang!
Rings um den Erretter tönt
der Befreiten Sieg’sgesang!
Seht! Er kommt, mit Sieg umringt,
Flöten tönt, belebt den Tanz!
Myrtenzweig’ und Rosen schlingt
in des Jünglings Lorbeerkranz!"

Keiner der damals Mitwirkenden, auch nicht der Komponist und Dirigent Händel, hätte sich wohl träumen lassen, dass diese Musik etwa hundert Jahre später zu einem der berühmtesten weihnachtlichen Stücke werden sollte. Zuvor aber müssen wir uns noch einem "Intermezzo" zuwenden.

Kirchenmusiker Meinrad Walter
Bild: ©privat

Der Theologe und Musikwissenschaftler Meinrad Walter (*1959) ist Referent im Amt für Kirchenmusik der Erzdiözese Freiburg und Honorarprofessor an der dortigen Hochschule für Musik.

Im Jahr 1796, knapp fünfzig Jahre nach Händels Komposition – und noch etwa fünfundzwanzig Jahre vor der Entstehung des Textes "Tochter Zion, freue dich!" –, komponiert Ludwig van Beethoven zwölf Variationen für Violoncello und Klavier über Händels Chorsatz. Er widmet dieses Werk seiner Gönnerin Christiane von Lichnowsky. Sie und ihr Gatte haben Beethoven immer wieder finanziell unterstützt und beherbergt. Überdies war Händels "Judas Maccabäus" am 15. April 1794 im Palais Lichnowsky erklungen. Beethoven könnte den berühmten Chorsatz also dort kennengelernt haben. Und vielleicht sind die Variationen ja ein komponierter Dank an seine Mäzenin, die von Händels Musik ebenso angetan war wie er?

Ein bürgerlicher Salon in Erlangen

Nach dem Londoner Opernhaus und dem Wiener Palais kommt um 1820 noch ein weiterer Ort ins Spiel, an dem das Lied zu seiner endgültigen weihnachtlichen Gestalt findet. In Erlangen wirkt ein Professor für Geologie namens Karl von Raumer (1783–1865), der zudem an Musik überaus interessiert ist und sich caritativ engagiert. Verheiratet ist er mit einer Tochter des Komponisten Friedrich Reichardt, und zu seinem Freundeskreis zählt auch der Seelsorger Friedrich Heinrich Ranke (1798–1876), ein Bruder des berühmten Historikers Leopold von Ranke.

Dieser Theologe hat dem Händel’schen Chorsatz die Worte von der "Tochter Zion" unterlegt. Sie passen zum Palmsonntag, weil hier der König, auf einem Esel reitend, in die Zionsstadt einzieht. Deshalb heißt die ursprünglich dritte Strophe, die heute kaum noch gesungen wird:

"Sieh! Er kömmt demütiglich;
reitet auf dem Eselein.
Tochter Zion, freue dich!
Hol ihn jubelnd zu dir ein."

Die biblische Spur führt zum Palmsonntag, aber auch zu einem verheißungsvollen Wort aus dem neunten Kapitel des Propheten Sacharja: "Juble laut, Tochter Zion! Jauchze, Tochter Jerusalem! Sieh, dein König kommt zu dir. Er ist gerecht und hilft; er ist demütig und reitet auf einem Esel, auf einem Fohlen, dem Jungen einer Eselin." Der Jubel der Tochter Zion passt aber nicht nur zum Palmsonntag. Ebenso gut eignet er sich als Begrüßungsmusik für das weihnachtliche Kommen des Gottessohnes in die Welt.

Im Salon des Gelehrten Karl von Raumer, wo fast jeden Abend ein Stück aus Händels "Messias" gesungen wurde, das "Halleluja" sogar auswendig, ist das Lied "Tochter Zion, freue dich" also erstmals erklungen. Genaueres erfahren wir von einem Theologen namens Valentin Strebel, der dort verkehrte und sich genau erinnert: "Hier wurde der schöne Triumphchor aus Judas Maccabäus 'Seht! Er kommt, mit Preis gekrönt' mit Freuden gesungen und empfing durch den damaligen Lehrer, Heinrich Ranke, später Professor der Theologie in Erlangen und noch später Oberconsistorialrat in München, die Textesworte 'Tochter Zion, freue dich!', mit denen das Lied sich nun in Deutschlands evangelischen Schulen eingebürgert hat."

Musik für Schule und Kirche

Melodien wandern von Ort zu Ort: vom Londoner Opernhaus ins fürstliche Wiener Palais, schließlich in den bürgerlichen Salon in Erlangen. Ein ganz besonderer Erfolg ist es, wenn ein Lied seinen Weg sogar in die Klassenzimmer der Schulen findet und wenn es in der Hausmusik heimisch wird. All dies ist bestens gelungen, nachdem Karl von Raumers Schwägerin Louise Reichardt "Tochter Zion" im Jahr 1826 in einem querformatigen Heft "Christliche, liebliche Lieder" erstmals zum häuslichen Singen im Druck veröffentlicht hat.

Bild: ©Fotolia.com/kanuman

Auf dem Tempelberg im Südostteil der Jerusalemer Altstadt befand sich ursprünglich der Jerusalemer Tempel. Heute steht hier der Felsendom.

Vielleicht hat der Textdichter Ranke ebendieses Heft zur Hand genommen, als er etliche Jahre später eine Adventspredigt vorbereitet hat. Ob er das Lied dann auch im Gottesdienst anstimmen ließ, wissen wir nicht. Gepasst hätte es als "Kanzellied" vor der Predigt ganz vorzüglich, denn Rankes Ansprache zum Advent beginnt so: "Es tut unserem Herzen wohl, wenn wir der Zeit gedenken, in welcher, den alten Weissagungen gemäß, das Licht über dem Volke Gottes aufging, und der Ruf vernommen wurde: Du, Tochter Zion, freue dich sehr, und du, Tochter Jerusalem, jauchze! Siehe, dein König kommt zu dir! Es tut uns wohl, jenes Hosiannarufes zu gedenken, mit dem die Gläubigen in Israel dem gnadenvollen König entgegenzogen, und wir möchten uns gern in ihre Reihen mischen, um mit ihnen den Weg des Herrn zu schmücken mit grünen Zweigen und lieblichen Blumen, und mit ihnen den Fürsten des Friedens, den Herrn der Herrlichkeit, lobsingend zu geleiten."

Wer ist die "Tochter Zion"?

Mancher Sänger und manche Sängerin haben sich vielleicht schon gefragt: Wer ist eigentlich die "Tochter Zion", von der wir hier singen? "Zion" ist zunächst der Tempelberg in Jerusalem, schon im Alten Testament aber auch Symbolbegriff für die himmlische Stadt und für Gottes Volk. Die "Töchter Zions" sind diejenigen, die den verheißenen Messias voller Sehnsucht erwarten. Später identifizieren Christen sich mit Zion, denn auch sie erwarten im Advent den König. So heißt es in der ersten Arie des Weihnachtsoratoriums von Johann Sebastian Bach:

"Bereite dich, Zion, mit zärtlichen Trieben,
den Schönsten, den Liebsten,
bald bei dir zu sehn!
Deine Wangen
müssen heut viel schöner prangen,
eile, den Bräutigam sehnlichst zu lieben!"

Eine letzte, nun literarische Station unseres Liedes soll noch erwähnt werden. Dazu reisen wir gedanklich nach Lübeck, in die Stadt der Familie Buddenbrook. Thomas Mann zeichnet ihren Aufstieg und Niedergang, wobei der "Verfall" immer wieder auch vom Klang berühmter Kirchenlieder begleitet wird. Unser Lied ist hier ein Relikt, der gefährdete Rest einer längst vergangenen musikalisch-weihnachtlichen Verzauberung. Als solches aber schenkt es immerhin ein paar weihnachtliche Momente des Innehaltens und In-sich-Gehens. Hören wir Thomas Mann:

"'Tochter Zion, freue dich!' sangen die Chorknaben, und sie, die eben noch da draußen so hörbar Allotria getrieben, daß der Senator sich einen Augenblick an die Tür hatte stellen müssen, um ihnen Respekt einzuflößen, – sie sangen nun ganz wunderschön. Diese hellen Stimmen, die sich, getragen von den tieferen Organen, rein, jubelnd und lobpreisend aufschwangen, zogen Aller Herzen mit sich empor, ließen das Lächeln der alten Jungfern milder werden und machten, daß die alten Leute in sich hineinsahen und ihr Leben überdachten, während die, welche mitten im Leben standen, ein Weilchen ihrer Sorgen vergaßen."

Von Meinrad Walter

Buch-Tipp

Meinrad Walter: O du selige Weihnachtszeit. Was unsere Weihnachtslieder erzählen. Mit Motiven historischer Liedpostkarten und Handschriften von Lieddichtern und Komponisten, Verlag am Eschbach, 2019 (ISBN 978-3-86917-760-1).