Warum heilt Jesus Behinderte, wenn Gott sie so geschaffen hat?
In der Bibel sind Heilungswunder Jesu überliefert. Er heilt auch Menschen, die blind oder gehörlos sind. Doch hat Gott diese Menschen nicht so geschaffen? Im Interview erklärt der Exeget Markus Schiefer Ferrari von der Universität Koblenz-Landau, wo in der Bibel Inklusion zu finden ist.
Frage: Herr Schiefer Ferrari, wo und warum gibt es diese Heilungserzählungen in der Bibel?
Schiefer Ferrari: Es sind vor allem die Evangelisten, die uns erzählen, dass Jesus Menschen heilt. Im Markusevangelium beispielsweise werden 18 Wundererzählungen überliefert, davon neun Heilungswunder. Neben diesen Heilungswundern gibt es die sogenannten Sammelberichte, in denen auch von Heilungen erzählt wird. Dabei geht es weder um einen Beleg für seine besonderen medizinischen Fähigkeiten noch für seine Zauberkraft. Vielmehr wendet sich Jesus uneingeschränkt Menschen zu, die ausgegrenzt und hilfsbedürftig sind. Er lässt sich von ihrer Not berühren, berührt sie im wörtlichen Sinne, indem er ihnen die Hand auflegt oder den Finger auf das erkrankte Organ legt.
Frage: Ist in diesen Erzählungen ein Muster zu finden, wen Jesus heilt? Um welche Menschen handelt es sich?
Schiefer Ferrari: Die Bibel nennt Blinde, Taube, Stumme und Aussätzige. Aus heutiger Sicht sprechen wir zum Teil von Menschen mit Behinderung im motorischen und sensorischen Bereich. Es sind also nicht nur kranke Menschen. Aber den Begriff der Behinderung gibt es in der Antike nicht; er kam erst nach der Aufklärung als Sammelbegriff auf.
Frage: Aber hat Gott diese Menschen nicht so geschaffen?
Schiefer Ferrari: Das ist die große Frage. Dahinter steckt: Will Gott, dass Jesus sie heilt oder nicht? Er will sicher nicht, zumindest nach unserer Vorstellung von ihm, dass Menschen Schmerzen haben oder leiden. Ich denke aber auch, dass es zur Vielfalt der guten Schöpfung Gottes gehört, dass Menschen verschieden sind. Es gibt nicht die eine Norm, wie Menschen sein sollen.
Frage: Zeigt Jesus mit diesen Heilungen, dass es wünschenswert ist, keine Behinderung oder Krankheit zu haben?
Schiefer Ferrari: Nach der Tradition des Neuen Testaments meine ich schon, dass die Heilsprophetie, die oft aus dem Alten Testament aufgegriffen wird, darauf verweist, was den Adressanten und Adressatinnen dieser Botschaft als wünschenswert und hoffenswert erscheint. Daher wäre die Lösung nicht, die Heilungserzählungen aus dem Neuen Testament zu streichen. Sie gehören zum Kernbestand der neutestamentlichen Überlieferung – aus gutem Grund: Weil sich darin die weltverändernde Kraft Gottes und die Botschaft vom Reich Gottes verdichten. Zudem hat aus der heutigen Perspektive die Wahrnehmung der Zerbrechlichkeit der Menschen nochmals eine deutungsverändernde Wirkung: Wir Leser und Leserinnen sollten unsere eigenen Normalisierungsphantasien und Exklusionsvorstellungen immer wieder hinterfragen und uns mit ihnen auseinandersetzen. Wir müssen auch beachten, wie sehr die Heilungsgeschichten Erzählungen ihrer eigenen Zeit sind und dass uns diese Zeit sowie auch die Wundervorstellung des ersten Jahrhunderts zum Teil fremd bleiben.
Frage: Ist die Form der Inklusion in der Bibel somit, dass Menschen mit Behinderung davon befreit werden?
Schiefer Ferrari: Nein. Wenn die Bibel in puncto Inklusion etwas zu sagen hat, dann sind es Aspekte wie die Gottebenbildlichkeit, dass jedem Menschen eine unverlierbare Menschenwürde zukommt – egal, ob behindert oder nicht behindert. Durch Jesus Christus als Gekreuzigten haben wir schon immer die menschliche Verletzlichkeit und Fragmentarität im Blick. Die Nächstenliebe ist ein weiterer Punkt, Jesu inklusive Praxis, die Aufforderung, das diesseitige Statusdenken aufzugeben. Insofern ist die biblische Botschaft grundsätzlich inklusiv. Aber in den Heilungsgeschichten höre ich jetzt nicht die inklusive Botschaft – außer in der Hinwendung Jesu zu den Ausgegrenzten.
Frage: Gibt es andere Bibelstellen, die Inklusion zum Ausdruck bringen?
Schiefer Ferrari: Die Mahlgemeinschaften Jesu sind ein gutes Beispiel. Die Menschen sind unabhängig von ihrem Status eingeladen. Diese Mahltradition und die Vision des gemeinsamen endzeitlichen Festmahls sind ein sehr starkes Bild dafür, dass es zwischen den Menschen keine Unterschiede gibt.
Frage: Was bedeutet das für uns heute?
Wir müssen aufpassen, dass wir, wenn wir Hoffnungsbilder malen, nicht Menschen ausschließen. Die UN-Behindertenrechtskonvention fordert eine volle und wirksame Teilhabe für alle Menschen an allen Aspekten des Lebens. Warum können wir dann von einem zukünftigen Himmel nicht auch Bilder entwerfen, die barrierefrei sind, wo es keine Rolle spielt, ob jemand eingeschränkt oder nicht eingeschränkt, Brillenträger oder Rollstuhlfahrer ist. Dabei sollte es jedem selbst überlassen bleiben, ein anderes Bild von der Zukunft für sich zu schaffen. Vermessen wäre es, verallgemeinernde Aussagen, wie alle Rollstuhlfahrer kommen als Rollstuhlfahrer in den Himmel, zu treffen. Jede und jeder hat die Freiheit, für sich eigene Hoffnungsvisionen zu entwickeln.