Steht das Gewissen über der Kirchenlehre?
Ist das gut, was ich gerade mache? Oder sollte ich es lieber lassen? Diese Fragen beantwortet für jeden Menschen das Gewissen – ohne bewusst gefragt zu werden. Als ganz persönliches Urteil begleitet es den Alltag und setzt manchmal als "schlechtes Gewissen" auch übel zu. Laut Katechismus hört der Mensch im Gewissen – so schreibt es schon Augustinus – die Stimme Gottes (KKK 1777). Das Regelwerk geht sogar so weit, zu sagen: "Der Mensch hat das Recht, in Freiheit seinem Gewissen entsprechend zu handeln, und sich dadurch persönlich sittlich zu entscheiden." Niemand dürfe dazu gezwungen werden, gegen das eigene Gewissen zu handeln (KKK 1782).
Woher die hohe Autorität des Gewissens kommt, beschreibt nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) die Pastoralkonstitution "Gaudium et spes" (1965): "Im Innern seines Gewissens entdeckt der Mensch ein Gesetz, das er sich nicht selbst gibt, sondern dem er gehorchen muss und dessen Stimme ihn immer zur Liebe und zum Tun des Guten und zur Unterlassung des Bösen anruft" (GS 16). Das Gewissen als "verborgenste Mitte und das Heiligtum im Menschen" (GS 16) zu sehen bezieht sich dabei vor allem auf den Apostel Paulus. Denn im Alten Testament ist vom Gewissen kaum die Rede, hier steht eher das Herz im Vordergrund. Paulus jedoch benutzt den Begriff Gewissen und definiert ihn als Gesetz, das den Menschen "ins Herz geschrieben ist" (Röm 2,15). Im Römerbrief ist im Zusammenhang mit dem Gewissen von Anklagen und Verteidigen die Rede. Das könnte ein Hinweis darauf sein, dass Paulus den Begriff nicht dem Alten Testament, sondern der griechischen Justiztradition entlehnt. Es geht also schon zu Beginn der christlichen Beschäftigung um ein Urteil, das gefällt werden soll.
Ein wichtiger Aspekt des Gewissens: Es stellt kein selbstständiges Ethikkonstrukt dar, sondern es ist ein Mechanismus für den Einzelfall. Gut oder schlecht, tun oder lassen lauten Kategorien des Gewissens. Thomas von Aquin unterscheidet die Gewissensanlage (syndereisis) und die Einzelfalleinschätzung (conscientia). Hier findet also zwischen der Fähigkeit zur Unterscheidung von Gut und Böse einerseits und einem Sachverhalt des Alltags andererseits durch einen individuellen Menschen eine Vermittlungsleistung statt. Das erklärt zwei Seiten des Gewissens: Einerseits hält Thomas von Aquin fest, dass sich der Mensch auch nach seinem Gewissen richten soll, wenn seine Tat dann der offiziellen Kirchenlehre widerspricht – er betont aber andererseits auch, dass das Gewissen irren kann. Die Kirche fordert deshalb, aus dem Gewissensurteil keine einsame Einzelaufgabe zu machen.
Kein Automatismus
Ein Beispiel: Jemand ist geschieden und wiederverheiratet und möchte die Eucharistie empfangen. Nach der Überwindung der mit reichlich Schmerz und Streit beladenen ersten Ehe fühlt er sich nun so weit mit sich im Reinen, dass er es mit seinem Gewissen vereinbaren kann, entgegen dem kirchlichen Verbot dennoch zur Kommunion zu gehen – denn seinem Gewissen dürfe er ja laut Katechismus folgen.
Hier fordert die Kirche dann allerdings mehr, als sich nur allein Gedanken zu machen: Es steht eine Gewissensprüfung an. Etwa in Gemeinschaft mit einem geistlichen Begleiter oder einem Seelsorger soll ergründet werden, wie hieb- und stichfest das Gewissensurteil ist. Welche anderen Menschen sind betroffen? Sind die Umstände wirklich derart, dass ein Empfang der Kommunion möglich ist? Wäre es möglich, die erste Ehe annullieren zu lassen? Es gibt hier keinen Automatismus. Das führt dazu, dass es nach dieser Prüfung "differenzierte Lösungen, die dem Einzelfall gerecht werden" gefunden werden sollen, wie es im Schreiben der deutschen Bischöfe (Nr. 104) im Nachgang des apostolischen Schreibens "Amoris laetitia" von Papst Franziskus heißt. Dieser hält fest: "Wir sind berufen, die Gewissen zu bilden, nicht aber dazu, den Anspruch zu erheben, sie zu ersetzen" (AL 37). Am Ende einer Gewissensprüfung kann also der Zugang zu den Sakramenten stehen, dessen Verwehrung – oder weitere Maßnahmen.
Doch es gibt einige Leitplanken, die auch mit Gewissensgründen nicht verhandelbar sind. So könnte eine schwangere Frau laut kirchlicher Auffassung auch nach reiflicher Gewissensprüfung ihr ungeborenes Baby nicht guten Gewissens abtreiben lassen. Denn die Tötung eines unschuldigen Menschen ist keine Gewissensentscheidung. "Gaudium et spes" führt eine ganze Liste an unverhandelbaren Sachverhalten auf: Mord, Völkermord, Abtreibung, Sterbehilfe, Folter jeder Art, Sklaverei, Prostitution und Menschenhandel (GS 27). "All diese und andere ähnliche Taten sind an sich schon eine Schande; sie sind eine Zersetzung der menschlichen Kultur, entwürdigen weit mehr jene, die das Unrecht tun, als jene, die es erleiden. Zugleich sind sie in höchstem Maße ein Widerspruch gegen die Ehre des Schöpfers." Das Gewissen als Vermittlungsleistung zwischen Gott und Mensch findet hier also klare Grenzen. Das soll auch verhindern, dass etwa ideologisch verbrämte Mörder ihre Taten mit ihrem Gewissen erklären könnten. Gleiches gilt für Menschen, die andere foltern. Der Folterbegriff wird hier sogar bis zur Ausnutzung und Ausbeutung anderer Menschen ausgelegt, etwa im Hinblick auf Arbeitsbedingungen.
Das Gewissen fit machen
Eine Gewissensentscheidung ist keine leichte Sache. Dafür muss das Gewissen fit gemacht werden. Besonders Papst Franziskus legt in seinen Reden auf diese Gewissensbildung großen Wert. Schon Paulus fordert ein, am eigenen Gewissen zu feilen: "Ich bin mir zwar keiner Schuld bewusst, doch bin ich dadurch noch nicht gerecht gesprochen; der Herr ist es, der über mich urteilt" (1 Kor 4,4). Der emeritierte Regensburger Moraltheologe Herbert Schlögel drückt es so aus: "Man muss versuchen, sich dem Evangelium zu öffnen und danach zu leben." Dabei bezieht er sich auf einen Ausspruch des Gründers der Gemeinschaft von Taizé, Frère Roger: "Lebe das, was du vom Evangelium verstanden hast. Und wenn es noch so wenig ist. Aber lebe es." Dazu gehört, bei der Gewissensentscheidung nicht nur auf sich selbst zu schauen, sondern auch in biblischer Tradition die Perspektive der Mitmenschen einzunehmen. Die Würde und das Lebensrecht jedes Einzelnen sind leitende Prinzipen, an denen sich die – lebenslange – Gewissensbildung ausrichten sollte. All diese Aspekte müssen dann in einer Güterabwägung jeweils auf eine Einzelsituation bezogen werden. Im Prozess der Gewissensbildung können auch immer neue Felder hinzukommen. Franziskus hat beispielsweise die Frage nach Klimaschutz und Umweltverschmutzung als Gewissensfrage bezeichnet.
Teil der Gewissensbildung wie auch der Gewissensprüfung ist dann letztendlich, eine getroffene Gewissensentscheidung auch konsequent bis zum Ende zu verteidigen und die Konsequenzen für das eigene Handeln zu tragen. Die können sogar zum Tod führen. Aufgrund seiner Gewissensentscheidung verweigerte der österreichische Bauer Franz Jägerstädter 1943 den Kriegsdienst für das nationalsozialistische Deutschland. Wegen "Wehrkraftzersetzung" wurde er geköpft. Von der Kirche konnte er keine Unterstützung erwarten, auch sein damaliger Ortsbischof Josef Fließer (Linz) riet ihm von der Kriegsdienstverweigerung ab. Selbst nach dem Zweiten Weltkrieg tat sich die Kirche noch schwer, seine Leistungen anzuerkennen. So dauerte es bis 2007, dass Jägerstädter seliggesprochen wurde. Eine Gewissensentscheidung kann im Extremfall also auch zum Martyrium führen.
Nicht umsonst hat das Gewissen also eine herausgehobene Stellung in der Sittenlehre der katholischen Kirche. Trotz aller Prüfung hängt es am Ende an einer einzelne Person in einer individuellen Situation, die Gewissensentscheidung zu treffen – niemand kann für sie entscheiden. Teil dieser Verantwortung ist es, dieses Ringen nicht anderen aufzubürden. Dazu kann gehören, etwa im Hinblick auf eine mögliche Organspende seine Angelegenheiten selbst zu regeln und das nicht auf Angehörige zu schieben. Das Gewissen kann über der Kirchenlehre stehen, dieses mächtige Instrument bedeutet jedoch auch eine große Aufgabe an jeden Gläubigen.