"Niemand soll alleine trauern": Eine Notfallseelsorgerin erzählt
Was sagt man einem Menschen, der gerade einen Angehörigen verloren hat? Wie tröstet man ihn und wie zeigt man ihm erste vorsichtige Schritte heraus aus dem Grauen? Uta Bolze muss auf diese Fragen Antworten finden – und das immer wieder. Die 47-Jährige ist seit rund zwei Jahren als ehrenamtliche Notfallseelsorgerin in Berlin tätig und wird zu Menschen gerufen, deren Leben kurz zuvor von einem schweren Schicksalsschlag heimgesucht wurde.
"Meine größte Sorge vor dem ersten Einsatz war: Was mache ich, wenn ich selbst in Tränen ausbrechen muss?", erzählt Bolze im Gespräch. Ende Juli 2017 war das, sie wurde zu einem Kind gerufen, das seine Mutter leblos auf dem Fußboden liegend gefunden hatte. Polizei und Rettungsdienst waren schnell vor Ort und kümmerten sich um die Mutter. "Doch wer kümmert sich in einer solchen Situation um die Angehörigen, in diesem Fall also um das Kind", fragt Bolze – und gibt mit ihrem Engagement als Notfallseelsorgerin gleich selbst die Antwort.
Notfallseelsorge will "Versorgungslücke" schließen
"Polizei und Rettungsdienst haben bei einem Unfall oder einem Suizid meist gar nicht die Zeit, sich vor Ort um Angehörige oder Freunde des Opfers zu kümmern", betont Bolze, die im Ordinariat des Erzbistums Berlin arbeitet und dort für die Fundraising-Entwicklung in den Pastoralen Räumen zuständig ist. Die Notfallseelsorge will diese "Versorgungslücke" schließen. "Niemand soll alleine trauern", sagt Bolze und man sieht, dass sie es ernst meint.
Das Bedürfnis, Menschen nach dem Verlust eines Angehörigen zu unterstützen, habe auch mit ihrer eigenen Biografie zu tun, erzählt die gebürtige Magdeburgerin. Als sie 17 Jahre alt war, starb ihre Mutter – im Kreis der Familie. Das gemeinsame Abschiednehmen und das Gefühl, die Trauer nicht allein bewältigen zu müssen, seien ihr bei allem Schmerz ein großer Trost gewesen. "Gerade in den Großstädten haben viele Menschen heute nicht mehr diesen familiären Halt", sagt Bolze. Umso wichtiger sei, dass ein Netz geknüpft sei, das beim Umgang mit dem Verlust eines Angehörigen oder Freundes helfen könne.
Linktipp: Notfallseelsorge
Ein plötzlicher Todesfall reißt Angehörige aus ihrem Alltag. Für Unterstützung in solchen Fällen gibt es rund um die Uhr Angebote. Katholisch.de erläutert die Wichtigkeit der Notfallseelsorge.Keine Frage: Es gibt deutlich leichtere Ehrenämter, etwa in der Kirchengemeinde oder im Sportverein. Dennoch hat Bolze sich voller Überzeugung für eine Mitarbeit bei der Notfallseelsorge entschieden. Angesprochen fühlte sie sich von einer Anzeige im Mitarbeitermagazin des Erzbistums. Dort wurde für eine einwöchige Ausbildung zur Notfallseelsorgerin geworben. Nur eine Woche – sehr wenig für eine so fordernde Aufgabe. "Das dachte ich zumindest am Anfang", erzählt Bolze. Ihre Zweifel seien während des Kurses im Städtchen Brück vor den Toren Berlins jedoch schnell zerstreut worden.
Der Grundkurs "Seelsorge und Krisenintervention in Notfällen", der zweimal im Jahr vom Erzbistum Berlin und der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz angeboten wird, vermittelt theoretische und praktische Grundlagen für die Arbeit als Notfallseelsorger. Neben der Geschichte der Notfallseelsorge, rechtlichen Grundlagen, Fragen seelsorglicher Kommunikation sowie Handlungsansätzen im Umgang mit Trauer und Krisen geht es in dem Kurs vor allem um die Vorgehensweise bei konkreten Notfällen. "Geübt wird das in Rollenspielen und Fallbeispielen, in denen es zum Beispiel darum geht, eine Todesnachricht zu überbringen sowie Angehörige nach einem Unfall oder einer erfolgslosen Reanimation seelsorglich zu betreuen", erklärt Bolze.
"Wenn das Telefon sich meldet, bin ich alles andere als entspannt"
Teil des Kurses sind zudem zwei Praktika: Ein zweitägiges Praktikum auf einer Feuerwache sowie eine mehrtägige Hospitation beim Berliner Krisendienst, einer rund um die Uhr erreichbaren Beratungsstelle für Menschen in Krisensituationen. "Ich fühlte mich durch den Kurs und die Praktika gut auf meine Aufgabe vorbereitet", resümiert Bolze. Die Ausbildung entspreche den bundesweiten Standards und die kurze Dauer sei auch deshalb kein Problem, weil man viele Herausforderungen, mit denen man in der Notfallseelsorge und Krisenintervention – wie der Dienst ganz offiziell heißt – konfrontiert werde, ohnehin nicht üben könne. "Das Entscheidende ist, dass man als Mensch für einen anderen Menschen da ist", ist die zweifache Mutter überzeugt.
Im Schnitt, so erzählt Bolze, wird sie einmal im Monat zu einem Einsatz gerufen. Das scheint wenig zu sein, doch nahezu jeder Einsatz birgt die Gefahr einer starken psychischen Belastung, die ertragen und verarbeitet werden muss. Dass ihr Ehrenamt eine enorme Herausforderung ist, gibt Bolze zu. Das gehe schon los, wenn auf ihrem Smartphone ein neuer Einsatzalarm eingehe. "Wenn das Telefon sich meldet, bin ich alles andere als entspannt", erzählt sie. Das Prozedere: Wenn ein Seelsorger benötigt wird, werden von der Einsatzzentrale der Notfallseelsorge alle Ehrenamtlichen über ihr Handy alarmiert. Der Seelsorger, der den Einsatz übernehmen kann und will, meldet sich dann bei der Zentrale und erhält alle weiteren Informationen.
Bolze gibt zu, dass sie nach einem Alarm schon das eine oder andere Mal mit einer Rückmeldung an die Zentrale gezögert habe – in der Hoffnung, dass ein anderer Seelsorger den Fall übernehme. "Über das Smartphone bekommen wir meist schon erste Informationen über den Einsatz. Und wenn ich dann das Gefühl habe, dass ich überfordert seien könnte – zum Beispiel, weil der Fall mich emotional besonders stark berührt –, macht ein Einsatz keinen Sinn", erklärt sie. Um Betroffenen wirklich helfen zu können, brauche es eine gewisse professionelle Distanz.
Das ist auch deshalb wichtig, weil die Notfallseelsorger in der Regel allein im Einsatz sind. Wie herausfordernd das sein kann, hat Bolze in den beiden vergangenen Jahren bereits mehrfach erfahren. Einer ihrer ersten Einsätze führte sie zu einer Familie, deren Baby am Plötzlichen Kindstod gestorben war. Als enorm belastend hat sie zudem mehrere Arbeitsunfälle erlebt, zu denen sie gerufen wurde. "Wenn ein Mensch durch einen Unfall plötzlich und unerwartet aus dem Leben gerissen wird, ist das für die Angehörigen besonders schwer zu ertragen", weiß sie.
"Ich fühle mich von Gott getragen"
In solchen Situationen helfe es ihr, dass sie sich von Gott getragen fühle. "Ich bin in guter Verfassung, so dass ich ein Stück des Leids anderer Menschen mittragen kann", beschreibt Bolze. Sie hoffe, dass sie das geben könne, was ihr Gegenüber in dieser so unendlich schweren Situation brauche. Ihre bisherige Erfahrung bestärke sie: "Ich erlebe immer wieder, dass mein Kommen von den Betroffenen als Entlastung wahrgenommen wird."
Doch wie kann man einem trauernden Menschen so kurz nach dem Verlust eines geliebten Angehörigen konkret helfen? Für Uta Bolze geht es vor allem darum, den Betroffenen in einer Ausnahmesituation beizustehen, und dies könne auf ganz unterschiedliche Weise geschehen. "Der seelsorgliche Zugang hängt zum Beispiel davon ab, ob ich zu einem religiösen Menschen gerufen werde oder nicht", sagt Bolze. Mit religiösen Menschen könne man beispielsweise beten oder eine Kerze für den Verstorbenen anzünden. Generell sei es wichtig, den Betroffenen zuzuhören: "Viele Hinterbliebene haben vor allem das Bedürfnis, mit jemandem zu reden. Sie erzählen dann zum Beispiel von dem Verstorbenen und ihrem gemeinsamen Leben und teilen so ihre Erinnerungen", weiß Bolze.
Linktipp
Weitere Informationen zur Notfallseelsorge finden Sie auf der Internetseite der Notfallseelsorge Berlin. Dort wird auch über die nächsten Termine des Grundkurses "Seelsorge und Krisenintervention in Notfällen" informiert.Aber auch ganz praktische Fragen spielen bei der Notfallseelsorge vor Ort eine wichtige Rolle. "Welche Angehörigen müssen benachrichtigt werden? Welche Vorbereitungen für die Bestattung können schon getroffen werden? Oder auch: Hat der Hinterbliebene schon etwas gegessen und getrunken?", so Bolze. Sie macht damit deutlich, dass die Notfallseelsorge auch ganz konkrete Lebenshilfe für Menschen in einer Extremsituation seien kann.
Die größte Herausforderung im Einsatz sei meist der erste Kontakt mit den Trauenden. Was sagt man in so einer Situation? Und wie verhält man sich richtig? "Wenn ich bei den Hinterbliebenen ankomme, reiche ich ihnen meine Hand und sage ihnen, wie ich heiße und das ich nun ganz für sie da bin", berichtet Bolze, und man kann man sich in diesem Moment tatsächlich gut vorstellen, dass sie den Betroffenen Geborgenheit und Trost spenden kann.
Supervisionen und Gesprächsrunden für die Seelsorger
Nach ihren Einsätzen müssen die ehrenamtlichen Seelsorger nicht allein mit dem Erlebten fertig werden. Regelmäßige Supervisionen und Gesprächsrunden mit anderen Notfallseelsorgern sollen helfen, die belastenden und oftmals extremen Einsatzsituationen zu verarbeiten. Unmittelbar nach den Einsätzen gibt es zudem die Möglichkeit, mit dem Kollegen, von dem man an den Einsatzort geschickt wurde, zu sprechen. Und dann ist da natürlich noch das persönliche Gespräch mit Gott. Ihr Glaube, so Bolze, helfe ihr, das Erlebte zu verarbeiten. In ihr Gebet nehme sie zudem immer auch die trauernden Menschen auf, denen sie in ihren Einsätzen begegnet sei.
Bei aller psychischen Belastung: Uta Bolze hat ihr ehrenamtliches Engagement für die Notfallseelsorge noch keine Sekunde bereut. "Es ist zwar immer noch eine Herausforderung, in ein fremdes Haus zu kommen, dessen Bewohner gerade einen schweren Schicksalsschlag erlitten haben. Aber ich spüre, wie wichtig und wertvoll mein Einsatz für diese Menschen ist". Für sie sei die Tätigkeit als Notfallseelsorgerin genau das richtige Ehrenamt.