Eklat im NRW-Landtag: "Ich wurde aus dem Gottesdienst geholt!"
Eigentlich sollte das parlamentarische Jahr in Nordrhein-Westfalen besinnlich mit einer Andacht ausklingen. Arbeit gab es aber auch noch – und die Kollision von Andacht und Familienausschuss führte zu kuriosen Tumulten: Das nun veröffentlichte Protokoll der Sitzung vom 19. Dezember 2019 liest sich wie ein Sketch von Loriot.
Die SPD-Fraktion hatte ein kostenloses Nahverkehrsticket für Kinder und Jugendliche beantragt, darüber sollte gesprochen werden, der Vorsitzende ruft den Tagesordnungspunkt auf. Auftritt Voßeler-Deppe, CDU, verspätet, Rüge des Vorsitzenden: "Was Sie hier machen! Wir sind hier in einer Sitzung. Sie können sich hinsetzen."
Voßeler-Deppe, nun verspätet und empört: "Ich wurde aus dem Gottesdienst rausgeholt!" – der Vorsitzende: "Ja, dazu kann ich doch nichts." Streit über die ordnungsgemäße Terminvereinbarung. Wurde auf 9.30 Uhr eingeladen? Oder auf "nach der Andacht"? (Voßeler-Deppe: "Nach dem Gottesdienst!" – Weiterer Zuruf von der CDU: "Nach dem Gottesdienst!")
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Geschäftsmäßig versucht der Vorsitzende, in die Beratung des Antrags einzutreten. Kamieth (CDU) möchte dennoch über die Zeitplanung sprechen. Kollege Tigges (ebenfalls CDU) bemerkt: Auch ein Sozialdemokrat ist noch beim Beten. Protest von Baran (SPD): "Wir waren alle hier!" Weitere Zwischenrufe, das Protokoll vermerkt Unruhe bei der CDU, Maelzer (SPD) verweist auf Tagesordnungspunkt Verschiedenes: "Wir sind hier in der inhaltlichen Beratung eines Antrags und nicht beim Club der verletzten Seelen der CDU."
Gottloses Volk? Unverschämtheit!
Zur allgemeinen Überraschung scheint diese Intervention nicht zur Befriedung beizutragen. Das Protokoll vermerkt kein Raunen, der Abgeordnete Maelzer vernimmt aber ein solches: "Ich möchte an einer Stelle auch ganz gerade werden: Wenn da in Richtung der Sozialdemokraten 'gottloses Volk' geraunt wird, (Zuruf von der SPD: Unglaublich!) dann weise ich das als unglaubliche Entgleisung zurück. (Volkan Baran [SPD]: Unverschämtheit! – Zuruf von der SPD: Ja!) In der Sozialdemokratie gibt es Menschen, die einer Konfession angehören, und es gibt Konfessionslose. Aber wir sind mit Sicherheit kein gottloses Volk. Solche Beschimpfungen muss ich mir von angeblichen Christdemokraten in dieser Runde nicht anhören."
Weiterer Streit, ob die Verspätung unter Tagesordnungspunkt Verschiedenes oder gleich diskutiert werden soll. Erste Versuche, den Antrag inhaltlich zu diskutieren. (Zur Erinnerung: es geht um kostenlosen ÖPNV für Jugendliche.) Paul, Grüne, will zur Sache kommen und redet über den Terminplan: "Ich will nur inhaltlich begründen, warum ich es schade finde, dass wir es nicht mehr inhaltlich diskutieren können!"
Wie lange dauert so eine Andacht eigentlich?
Kamieth, CDU, beleidigt: "Dann diskutiere doch inhaltlich!" Paul, Grüne, jetzt auch beleidigt: "Ich habe keine Lust, jetzt in zehn Minuten noch inhaltlich zu diskutieren, wenn du als einzigen Punkt noch sagst: Wir lehnen es ab, weil ich eigentlich gern über die Andacht diskutieren möchte."
Nach zwei Wortmeldungen zur Sache endlich: Abstimmung. Der Ausschuss lehnt den Antrag der Fraktion der SPD mit den Stimmen der CDU, der FDP und der AfD gegen die Stimmen der SPD bei Enthaltung der Grünen ab.
Unter dem Tagesordnungspunkt Verschiedenes zeigt sich der Ausschussvorsitzende konziliant. "Wir hätten wir [sic] eine extra Sitzung anberaumen müssen. Das wäre, glaube ich, besser gewesen; denn wie lange die Andacht dauert, kann niemand wissen. Das ist immer …" – Tigges, CDU, nicht konziliant: "Doch!" – der Vorsitzende, weiterhin konziliant: "Nein, das ist gerade mit den Musikbeiträgen usw. immer unklar." – Tigges, CDU, kennt sich mit Andachten aus: "Das weiß doch jeder! Das ist eine Dreiviertelstunde!" – der Vorsitzende, konziliant und unter Zeitdruck, da gleich das ganze Parlament tagt: "Ich wünsche Ihnen allen trotzdem eine schöne Weihnachtszeit und jetzt ein hoffentlich schnelles Plenum."
Der Termin-Eklat hat ein Nachspiel
Damit war die Ausschusssitzung beendet, nicht aber der Konflikt. Der familienpolitische Sprecher der SPD Dennis Maelzer ließ das "gottlose Volk" nicht auf sich beruhen. Wie die Katholische Nachrichten-Agentur berichtet, wandte er sich an die Beauftragten der katholischen und evangelischen Kirche bei Landtag und Landesregierung. "Dieser verletzende Vorwurf der CDU hat zahlreiche unserer Mitglieder und auch mich selbst stark getroffen", schrieb Maelzer an die Kirchenvertreter.
Vielen Sozialdemokraten sei das Ausüben von Funktionen in kirchlichen Gremien "eine Herzensangelegenheit". Die beiden angeschriebenen Kirchenvertreter versicherten dem SPD-Abgeordneten, dass man ihn und seine Partei nicht für gottloses Volk halte. Jetzt wartet er nur noch auf eine Entschuldigung aus der CDU.
(Alle kursiv gesetzten Zitate sind wörtlich dem Protokoll der Ausschusssitzung entnommen.)