Analyse eines Priesters zur Kirchenkrise

Nur ein Verzicht der Kirche auf alle Machtstrukturen wird heilsam sein

Veröffentlicht am 17.01.2020 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Wuppertal ‐ Die Kirche verliert heute immer mehr an Relevanz und Autorität. Sie steckt in der Krise. Weder ein "Weiter so" noch halbherzige Reformen können die Kirche retten, analysiert der Priester Reiner Nieswandt. Er sagt: Um die Krise zu überwinden, muss sie sich neu erfinden.

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Die katholische Kirche in Deutschland und (wahrscheinlich) in weiten Teilen Europas befindet sich am Beginn eines gewaltigen Umbruchs, den man ohne Übertreibung als "epochalen Gestaltwandel" bezeichnen darf, ähnlich wie zu Beginn der Reformation vor rund 500 Jahren.

Aber was ist die Ursache für den gegenwärtigen Verlust einer von der Breite der katholischen Bevölkerung getragenen Kirchlichkeit? Vonseiten "konservativer" Bewahrer wird vor allem die fortschreitende Säkularisierung der "westlichen" Lebensweise und deren "Eindringen" in die katholische Kirche nach dem II. Vatikanischen Konzil beklagt. "Liberal" denkende Katholiken hingegen vermissen Reformbereitschaft des kirchlichen Lehramts bei der Morallehre – insbesondere mit Blick auf die menschliche Sexualität – und kritisieren dessen Weigerung, die weiterhin monarchisch-absolutistisch verfassten Strukturen der Kirche nach dem Vorbild westlicher Gesellschaften und ihrem Modell der Gewaltenteilung zu demokratisieren. Während die einen den Vorwurf zu hören bekommen, ins Vorgestern zurück zu wollen, werden die anderen aufgefordert, doch "evangelisch" zu werden, da in den protestantischen Kirchen viele ihrer Forderungen schon längst realisiert seien.

Missbrauch durch "unhinterfragbare" Machtstrukturen erst möglich

Vor dem Hintergrund von Skandalen verschiedenster Art – sprich: sexueller, finanzieller, psychischer und spiritueller (Macht-) Missbrauch –, die zwar in der Regel von je Einzelnen verursacht wurden, aber allzu lange durch die "klerikale" Mentalität zu vieler Beteiligter und Verantwortlicher ermöglicht und gedeckt wurden, erleidet die Kirche gegenwärtig einen rapiden Relevanz- und Autoritätsverlust auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens und das mit zunehmender Erosionsgeschwindigkeit. Auch wenn es in anderen gesellschaftlichen Bereichen (etwa im Sport) ebenfalls zu den verschiedenen Formen von Missbrauch kommt, so besitzt der durch kirchliche Amtsträger bedingte spezifische Eigenheiten, die durch die gegebenen "sakralisierten" und damit "unhinterfragbaren" Machtstrukturen und Mentalitäten erst möglich wurden.

Bild: ©KNA

Es ist nicht zu leugnen: Die Kirche verliert gesellschaftlich und moralisch immer mehr an Autorität und Relevanz.

Die Hinweise dafür sind eindeutig:

  1. Immer weniger junge Menschen, egal welcher Konfession, sind – trotz intensiver Werbekampagnen – bereit, Theologie zu studieren, um einen kirchlichen Beruf zu ergreifen.
  2. Immer mehr Erwachsene in jedem Lebensalter sind religiöse Analphabeten, weil sie – trotz (oder gar wegen?) jahrelanger intensiver Belehrung durch Religionsunterricht, Katechese und Verkündigung – niemals eine persönliche religiöse Sprache entwickelt haben.
  3. Der Bürokratieaufwand in der Kirche bleibt enorm und weitet sich eher noch aus. Dies musste ich als Gemeindepfarrer, trotz der zwischenzeitlichen Einstellung von fähigen Verwaltungsleitern in den Gemeinden, selber erfahren. Hier wie auch woanders bewahrheitet sich das "Parkinsonsche Gesetz" der sich selbst ausweitenden, erhaltenden und ernährenden Bürokratien. Für die eigentliche Aufgabe der Seelsorger, den Menschen nah zu sein und mit ihnen das mysterium fidei der Nähe Gottes zu feiern, bleibt immer weniger Raum und Zeit, die nicht selten in stundenlangen, oft unfruchtbaren Beratungen und Besprechungen mit Professionellen und ehrenamtlich Engagierten verausgabt wird.
  4. Die Wahrnehmung und Inanspruchnahme von Kirche durch die Gesellschaft und ihre Menschen erhält immer mehr Eventcharakter, etwa bei Taufen und Hochzeiten, Schützenfesten und Karneval. Das Auftreten kirchlicher Vertreter in altertümlich anmutender Dienstkleidung zu kirchlichen wie gesellschaftlichen Anlässen stärkt den scheinbar unausrottbaren Traditionalismus und wird von Kritikern wie Fernstehenden oft als skurril empfunden.
  5. Im kulturellen Sektor braucht es keine dezidiert religiösen Künstler, um etwa hochwertige Glasfenster für eine Kathedrale zu entwerfen oder eine Mozart-Messe "aufzuführen".
  6. Viele der "klassischen" Ordensgemeinschaften, die die Spiritualität des "christlichen Abendlandes" entscheidend geprägt haben, werden nicht nur immer kleiner, sondern sind in den kommenden Jahren vom Aussterben bedroht.

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Der nicht mehr zu leugnende umfassende gesellschaftliche wie moralische Autoritäts- und Relevanzverlust der Kirche hat im Wesentlichen zu drei Reaktionen geführt. Das ist das "Weiter so" konservativer Bischöfe und Gläubiger, die in Kauf nehmen, dass die Kirche "zur kleinen Herde" wird. Als Strategie dient die Identifizierung innerkirchlicher Straftaten egal welcher Art (finanziell, spirituell, sexuell) als individuelle Vergehen oder "Sünde". Strukturen, die Fehlverhalten begünstigen könnten, werden nur teilweise als solche identifiziert und möglicherweise einer minimalistischen Korrektur unterzogen.

Ein zweiter Punkt ist die Einführung von struktureller Gewaltenteilung nach dem Muster westlicher Demokratien, etwa durch Einführung kirchlicher Verwaltungsgerichtsbarkeiten sowie Öffnung kirchlicher Machtstrukturen für Nicht-Kleriker ("Partizipation").  Drittens wird die Entwicklung einer "Theologie der Macht" gefordert – ohne diese jedoch genauer zu definieren.

Die innerkirchliche Auseinandersetzung um den ersten und zweiten Aspekt (als Synodaler Weg der Deutschen Bischofskonferenz im Advent 2019 gestartet) prägte in den zurückliegenden Monaten die innerkirchlichen Diskussionen mitunter aufs Schärfste.

Weder "Weiter so" noch "Reformen" retten die Kirche

Allerdings ist der Autoritäts- und Relevanzverlust der Katholischen Kirche in Deutschland mittlerweile so weit fortgeschritten, dass ein "Weiter so" die Kirche ebenso wenig retten wird wie halbherzige "Reformen". Die Kirche muss sich am Anfang des 3. Jahrtausends gewissermaßen neu (er-)finden; dazu verhilft nur ein umfassender "Abriss" von Strukturen, die mehr behindern als helfen, und ein grundlegender "Neubau" auf Basis der Botschaft Jesu.

Nur ein umfassender, freiwilliger Verzicht der Kirche auf jegliche Machtstrukturen wird für sie selber heilsam sein, weil es ihr die Möglichkeit eröffnet, nach dem Vorbild Jesu und der jungen Kirche die Botschaft vom Reich Gottes (wieder) glaubwürdig in unsere Zeit und Gegenwart zu verkünden.

„Wie soll das geschehen ...?“

—  Zitat: Lukas 1,34

Die Kirche als Ganzes muss (wieder) lernen, sich an der Zärtlichkeit und scheinbaren "Machtlosigkeit" des "allmächtigen Gottes" (Credo) zu orientieren. Diese zeigt sich in besonderer Weise beim Tod Jesu am Kreuz, ebenso wie zu Beginn bei seiner Menschwerdung durch das Wirken des Heiligen Geistes in der Jungfrau Maria (Lk 1,36-38); ein im Laufe eines Kirchenjahres häufig vorgetragenes Evangelium in der Heiligen Messe.

Die Kirche als Ganzes muss sich endlich (!) von jeglichem Klerikalismus an Haupt und Gliedern befreien, ein zentrales Anliegen von Papst Franziskus seit Beginn seines Pontifikats. Die Kirche (in Deutschland) muss sich ferner zügig "ent-ver-weltlichen" (im Sinne der Freiburger Rede von Papst Benedikt XVI., im September 2011), indem sie sich aus der "babylonischen Gefangenschaft" sie fesselnder bürokratischer Strukturen befreit und auch auf "positive" institutionelle Machtmöglichkeiten wie Schulen, Krankenhäuser oder Sozialeinrichtungen verzichtet. Was im 19. Jahrhundert sinnvoll gewesen sein mag, ist es heute nicht mehr ohne weiteres und sollte stattdessen vom "Sauerteig-Modell" der Gleichnisse Jesu (Mt 11,33) abgelöst werden.

Utopie einer anderen Kirche

Ein struktureller Machtverzicht der Kirche verhindert oder wenigstens vermindert (Macht-) Missbrauch, der dann nicht mehr als ihrem Wesen zugehörig identifiziert werden könnte. Er schafft das in unserer Gesellschaft bürokratisch ausgeuferte "Berufschristentum" der "bezahlten Knechte" (Joh 10,12) jeglicher Couleur weitgehend ab und befähigt wie ermuntert stattdessen die Christinnen und Christen, selber vor Ort ihren Glauben zu leben und ihren Nächsten zu dienen.

Kirchlicher Machtverzicht schafft Platz für die erneuerte Frage nach dem barmherzigen Gott und für die Überwindung der "Gotteskrise", die von allen Gläubigen und nicht mehr nur von Theologen und Amtsträgern zu diskutieren wie zu meditieren ist. Gleiches gilt im Zeitalter von "fake news" für die Wahrheitsfrage, die auch die Bereitschaft zur Wahrhaftigkeit einschließen muss, dort, wo Macht missbraucht wurde: "Die Wahrheit wird euch befreien", sagt uns Jesus (Joh 8,32).

Krankenhaus
Bild: ©Fotolia.com/sudok1

Um sich zu erneuern, muss dich Kirche auch auf positive institutionelle Machtmöglichkeiten wie Krankenhäuser, Schulen oder Sozialeinrichtungen verzichten, fordert Reiner Nieswandt.

Eine freiwillige Selbst-Entmachtung der Kirche wird schon von sich aus zum Abbau von Klerikalismus, der ideologischen Trennung des Gottesvolkes in "omnipotente" Amtsträger und "unmündige" Gläubige, beitragen, insofern das Feld für Geldgierige und Geltungssüchtige, Bequeme, Ehrgeizlinge und Karrieristen unattraktiv würde.

Der zölibatär lebende Priester, der, sofern er nicht ohnehin Ordenspriester ist, muss sich an den evangelischen Räten orientieren, materiell bescheiden leben und in Zukunft ausschließlich an die Ränder der Gesellschaft gehen. Er soll dort sein, wo die soziale und psychische Not der Menschen am größten ist, in den sozialen Brennpunkten unserer Städte, in Kliniken und Gefängnissen. Die Zahl der Priester, die zu dieser Lebensweise bereit sind, würde vermutlich sehr klein sein.

Ob ein solcher Weg die Kirche davor bewahren wird, soziologisch betrachtet zur Sekte zu schrumpfen, weiß ich nicht. Aber genau dies wird eintreten, wenn der Weg des freiwilligen Machtverzichts nicht beschritten wird, währenddessen der bürokratische Apparat noch über Jahrzehnte dank finanzieller Absicherung in der Lage sein wird, "weiter zu laufen".

Ziel sollte es stattdessen sein, dass die Kirche, wie in ihrer Ursprungszeit, zu einem umfassenden globalen, wie regionalen und lokalen "Netzwerk der Agape" wird, das sich am Vorbild des armen und machtlosen Jesus von Nazareth orientiert. Daran sollten sich die diversen Zukunftsprozesse der Bistümer ausrichten.

Von Reiner Nieswandt

Zur Person

Reiner Nieswandt ist Priester im Erzbistum Köln. Er war ab 2010 Leitender Pfarrer in der Kirchengemeinde St. Chrysanthus und Daria in Haan und seit 2015 zusätzlich Leitender Pfarrer in der Kirchengemeinde St. Jacobus in Hilden. Anfang 2019 gab er beide Ämter ab. Seit März ist er Leitender Pfarrer in der Krankenhausseelsorge im Stadtdekanat Wuppertal. Ende November erschien sein Buch "'Reißt diesen Tempel nieder!' – Anstöße für eine andere Kirche" im Bonifatius-Verlag.