Prälat Jüsten: Sterbehilfe-Urteil ist Zäsur für den Lebensschutz
Das Bundesverfassungsgericht hat das Verbot organisierter Hilfe beim Suizid aufgehoben. Die Karlsruher Richter sehen durch das seit 2015 geltende Verbot unter anderem die Rechte von schwerstkranken Menschen und Ärzten verletzt. Die Vorschrift sei mit dem Grundgesetz unvereinbar, sagte der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, am Mittwoch bei der Urteilsbegründung. Im Interview mit katholisch.de kritisiert der Leiter des Katholischen Büros in Berlin, Prälat Karl Jüsten, das Urteil scharf.
Frage: Prälat Jüsten, das Bundesverfassungsgericht hat das geltende Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung gekippt. Wie bewerten Sie die Karlsruher Entscheidung?
Jüsten: Wir haben durch diesen Richterspruch zum ersten Mal eine Neubewertung unserer Grundwerteordnung in Bezug auf das Recht auf Leben und Selbstbestimmung erlebt. Bisher war das Bundesverfassungsgericht stets ein Garant für unsere auf Bejahung und Förderung des Lebens ausgerichtete Kultur in Deutschland. Wir konnten immer davon ausgehen, dass das menschliche Leben in all seinen Phasen unter dem besonderen Schutz des Staates und seiner Gesetze stand. Durch den Karlsruher Urteilsspruch ist diese Gewissheit erschüttert worden. Wenn es professionellen Organisationen künftig in Deutschland erlaubt ist, Menschen geschäftsmäßig beim Suizid zu begleiten, ist das eine Zäsur, die das hohe gesetzliche Schutzniveau für das menschliche Leben ins Wanken bringt.
Frage: Ohne Zweifel gibt es aber Menschen, die – sei es durch Alter oder Krankheit – vor dem Ende ihres Lebens stehen und dieses Ende auch aus Angst vor einem möglicherweise schmerzhaften Sterbeprozess selbstbestimmt wählen wollen. Wie erklären sie diesen Menschen die kirchliche Ablehnung der Sterbehilfe?
Jüsten: Zunächst erkläre ich ihnen, dass wir für jede Begleitung und Unterstützung eintreten und damit Ängste und Leid auch nehmen können. Die Fixierung auf die Selbsttötung führt ja leider dazu, dass wir viel zu wenig über die vielen Möglichkeiten der Hilfe sprechen und viele Menschen gar nicht wissen, welche Möglichkeiten sie haben, selbstbestimmt ihren letzten Weg zu gestalten. Wahr ist aber auch: Schweres Leid anzunehmen und auszuhalten ist sicher eine der schwierigsten Grenzerfahrungen, die wir Menschen früher oder später in unserem Leben machen müssen. Dies in irgendeiner Form zu bagatellisieren, hielte ich für grundfalsch. Insofern würde ich versuchen, Betroffenen im persönlichen Gespräch deutlich zu machen, dass auch ich in einer vergleichbaren Situation sicher massiv herausgefordert wäre – auch in meinem Glauben. Gleichzeitig sage ich als Christ aber auch: Das Leiden gehört zu unserem Menschsein dazu. Gott selbst ist in seinem Sohn Jesus Christus Mensch geworden und hat das Leid angenommen, das über ihn kam. Gott hat uns damit deutlich gemacht, dass das Leid im Dasein des Menschen angelegt ist und dazugehört. Insofern ist das Annehmen und Aushalten von Schmerzen für uns Menschen auch ein Weg der Christusnachfolge.
Frage: Das ist natürlich eine Antwort, die vor allem gläubigen Menschen hilft ...
Jüsten: Natürlich. Aber vielleicht kann auch derjenige, der nicht glaubt, aus der christlichen Perspektive zumindest ein wenig Hoffnung und Kraft schöpfen. Klar ist aber: Für uns als Kirche kann die Antwort auf die realen Sorgen und Nöte von schwerstkranken und sterbenden Menschen kein Todescocktail sein. Wir müssen und wollen vielmehr alles dafür tun, auch auf der letzten Wegstrecke die Liebe zum Leben in den Mittelpunkt zu stellen, um ein Sterben in Würde zu ermöglichen. Dass dies gelingen kann, zeigt sich etwa in unseren Hospizen, wo die Todeswünsche Betroffener nach wirklicher Zuwendung meist wieder schwinden.
Frage: Hospize sind ein wichtiger Baustein der Palliativversorgung, für deren Ausbau sich die Kirche schon lange engagiert. Wie ist hier der aktuelle Stand?
Jüsten: Der Gesetzgeber hat in den vergangenen Jahren einiges dafür getan, die Hospiz- und Palliativversorgung, zu verbessern – etwa, indem die stationären Kinder- und Erwachsenenhospize und ambulanten Hospizdienste finanziell stärker gefördert werden. Diese Maßnahmen fangen langsam an zu greifen, aber natürlich ist da noch Luft nach oben. Entscheidend ist, dass alles dafür getan wird, Menschen, die am Leben zweifeln oder ihr Leben beenden möchten, Unterstützung zu geben, damit sie neuen Lebensmut schöpfen können. Dafür braucht es engagierte Menschen, die die Betroffenen nicht allein lassen. Und das ist natürlich auch eine wichtige Aufgabe für die Kirche.
Frage: Zurück zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts: Welche Reaktion erhoffen Sie sich nun vom Gesetzgeber? Was muss Ihrer Ansicht nach auf diesen Richterspruch folgen?
Jüsten: Um das beurteilen zu können, müssen wir uns den Richterspruch zunächst genau anschauen und die Begründung des Gerichts analysieren. Dem möchte ich nicht vorgreifen. Gegebenenfalls muss der Gesetzgeber aber aktiv werden und auf Basis des Urteils ein neues Gesetz erlassen – das dann natürlich im besten Fall unserem kirchlichen Anspruch an den Lebensschutz möglichst nahekommt.
Frage: Sie haben am Anfang gesagt, dass der umfassende Schutz des menschlichen Lebens in Deutschland durch das heutige Urteil zum ersten Mal ein Stück weit ausgehöhlt werde. Was sagt das über den Zustand unserer Gesellschaft aus?
Jüsten: Das sagt vor allem etwas über den Zustand des Bundesverfassungsgerichts aus. Ich hätte mir noch vor einigen Jahren nie vorstellen können, dass deutsche Richter jemals zu einem solchen Urteil kommen könnten. Nehmen Sie nur die Aussage der Richter, dass der Entschluss zur Selbsttötung wie keine andere Entscheidung die Identität und Individualität des Menschen berühre.