Warum Religionsunterricht nicht unpolitisch sein kann
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In dieser Zeit kann es nicht anders sein, als Stellung zu beziehen gegen Terrorismus und Menschenverachtung, die sich in bedrohlicher Weise ausbreiten. Manche Menschen mögen diese Entwicklung anschauen wie ein Naturgesetz, das ähnlich wie Klimawandel oder auch Digitalisierung einfach über uns hereinbricht. Es gilt jedoch auch hier, dass es immer eine Wahl gibt, auf welche Seite man sich stellt. Nach allem, was ich gelernt habe und lehren kann, gilt für mich als Christ noch immer die Option für die Armen und die unter die Räder Geratenen. Und es gibt wirklich nicht einen einzigen Grund Menschen an den Rand zu drängen, ihnen in irgendeiner Weise Gewalt anzutun oder sie gar ums Leben zu bringen.
Der Religionsunterricht hat in dieser bewegten Zeit ein eminent gesellschaftskritisches und haltungsbildendes Potential und ich kann meine Arbeit nicht anders als hochpolitisch und streng öffentlich verstehen. Empörend finde ich die Versuche, Religion zur Privatsache zu domestizieren und damit zu verharmlosen. Wenn ich daran denke, dass eines der Lieblingsworte meiner Schülerinnen und Schüler "egal" ist, dann mache ich mir einen Reim darauf, wer ein Interesse an der Privatisierung von Religion hat. Einem religiösen Menschen ist in der Gesellschaft, in der er lebt, so ziemlich nichts egal, schon gar nicht die Erfahrungen von Unfreiheit und Ausgrenzung, von Extremismus und Terror. Es gibt kein "egal", ich habe immer eine Wahl, auf wessen Seite ich mich stelle. Und ich bin sehr froh, dass der Religionsunterricht im öffentlichen Raum der Schule stattfindet, dass er Gelegenheit und Notwendigkeit bietet Flagge zu zeigen für Menschenrechte, Frieden und Freiheit.
Ein Ort der Bewusstwerdung
Der Religionsunterricht kann eine Schule der Haltungsbildung und -schulung, ein Ort der Bewusstwerdung sein, die hilfreich zum Bau und Erhalt einer menschenfreundlichen Gesellschaft ist. In erster Linie pflegen wir, wie bereits mehrfach angedeutet, generell einen Umgang miteinander, der von Höflichkeit, Wertschätzung, Fairness, Güte und auch Barmherzigkeit gekennzeichnet ist. Die Themen der einzelnen Jahrgänge sind durch die Bank dazu geeignet, diese Haltungen zu schulen und ihnen Hintergrund und Fundament zu geben.
Wenn wir im 5. Jahrgang über Gleichnisse arbeiten, stehen das wiedergefundene 100. Schaf (Lk 15,1-7) und der vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25-37) gerettete Mensch im Mittelpunkt. Die Botschaft, dass man sich seinen Nächsten nicht aussucht, dass niemand links liegen gelassen wird, hat momentan eine besondere Brisanz. Auch eine Reihe Schülerinnen und Schüler fühlen sich verloren, zum Beispiel im Hin- und Hergerissen sein zwischen getrennten Eltern. Es ist schön zu beobachten, wie der Religionsunterricht eine Insel sein kann und manches Kind hier wenigstens ein offenes Ohr findet.
Im 6. Schuljahr lernen wir vorbildliche Menschen kennen, um in ihnen einen Ort Gottes auf der Erde festzumachen. Neben den großen Ikonen Martin von Tours und Elisabeth von Thüringen berichten die Kinder in Referaten auch über Janusz Korczak, der seine Waisenkinder 1942 nicht im Stich gelassen hat und mit ihnen in die Vernichtung nach Treblinka gegangen ist. Rosa Parks und Martin Luther King sind uns ebenfalls vorbildliche Menschen, die durch gewaltfreien Widerstand eine ganze Gesellschaft umgekrempelt haben. Nachahmung ist dabei kein Ziel und würde uns alle überfordern. Aber zur Bildung einer menschenfreundlichen Haltung bieten diese Menschen doch sicher eine gewisse Orientierung.
Ehrfurcht vor dem Leben lernen
Eine Weitung der Perspektive auf geschwisterlichen Umgang mit der Erde und ihren Ressourcen bietet die Beschäftigung mit Naturreligionen im 7. Jahrgang. Ebenso wie es keinen Grund gibt einem Menschen etwas anzutun, gibt es keinen Grund dafür, irgendein Lebewesen auf dieser Erde gering zu schätzen. Es ist nicht das Schlechteste, in solchen Stunden auf den Gehalt eines den Schülern weitgehend ungeläufigen Begriffs wie "Ehrfurcht" aufmerksam zu machen.
In der Oberstufe ist Achtsamkeit eigentlich durchgängiges Thema, etwa im 10. Jahrgang unter der Überschrift "Anthropologie". Wenn wir Theologen den Menschen als Geschöpf, Bild Gottes und Person verstehen, wird sehr schnell deutlich, dass Gewalt wirklich keine Lösung für irgendein Problem sein kann. Gewaltvoll ist für mich übrigens eine Haltung, die andere Menschen daran hindert sich so zu entfalten, wie sie es in einem Klima der Geschwisterlichkeit könnten. Insofern sind manche Unarten im Umgang der Schülerinnen und Schüler untereinander durchaus gewaltvoll.
Apropos "Überwältigungsverbot", das ja auch zur Verharmlosung des Unterrichts missbraucht werden kann: Was anders als überwältigend ist die Botschaft, dass gerade der Kleine ein Großer ist, etwas gilt und ein ebensolches Recht auf Entfaltung hat wie derjenige, der sich stärker fühlt! Was anders als überwältigend ist die Botschaft, dass jeder einzelne Mensch eine unveräußerliche Würde hat und nichts deren Verletzung rechtfertigen kann! Wenn diese überwältigende Gute Nachricht nicht verbreitet und im Unterricht in den Mittelpunkt gestellt werden darf, kann ich einpacken und denen das Feld überlassen, die ein Interesse daran haben, dass Menschen klein bleiben.
Wir haben nach dem Anschlag in Hanau im sechsten Schuljahr darüber nachgedacht, wie es wäre, wenn plötzlich eines Morgens ein Platz in der Klasse für immer frei bleiben würde. Eine Mutter hat mir berichtet, ihre Tochter hätte am Nachmittag Kindernachrichten schauen wollen, um sich zu informieren. Mir gefällt das, weil der Unterricht ein wenig geholfen hat, dass ein Kind Haltung entwickelt und in bestem Sinne "groß" wird.