Marienfigur und Kreuzweg ziehen bei den Protestanten ein

Katholisch und evangelisch unter einem Dach – Wie das funktioniert

Veröffentlicht am 07.03.2020 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Oberhausen ‐ Kirchenschließungen sind für Gläubige oft eine schmerzliche Erfahrung. In Oberhausen musste ein weiteres Gotteshaus geschlossen werden. Doch für die Gemeinde ist das sogar eine Chance für etwas Neues.

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Jährlich sinken die Mitgliederzahlen nicht nur in der katholischen Kirche. Das spiegelt sich in den Schließungen von Gotteshäusern wider. Auch in Oberhausen mussten sich Gläubige von der Kirche St. Judas Thaddäus trennen. Doch das bedeutet nicht das Ende der Gemeinde: Zwar können die Katholiken seit Anfang März nicht mehr in "ihrer" Kirche die Messe feiern, aber ein paar hundert Meter weiter: Jetzt teilen sie sich ein Gemeindezentrum mit einer evangelischen Pfarrei.

Dass das katholische Gotteshaus irgendwann geschlossen werden muss, war im Pfarreientwicklungsprozess schon lange klar. "Wir konnten die große Kirche und das große Gemeindezentrum nicht mehr finanzieren", sagt Pfarrer Christoph Wichmann. 30-50 eher ältere Menschen besuchten etwa wöchentlich den sonntäglichen Gottesdienst. Mit Blick auf Heiz- und Unterhaltungskosten sei das nicht mehr bedarfsentsprechend gewesen. Doch die Pfarrei wollte "noch ein Stück weit Kirche erhalten", gerade weil St. Judas Thaddäus eine Insellage hatte, wie Wichmann erklärt. Im Umfeld gibt es keine oder nur wenig andere Kirchen. "Spontan" ergab sich die Idee, das benachbarte evangelische Gemeindezentrum "Quellstraße" anzufragen.

Bild: ©Bistum Essen/Alexandra Roth

Noch ein letztes Mal feierten die Katholiken Gottesdienst in ihrer Kirche St. Judas Thaddäus in Oberhausen.

"Ich selber habe da natürlich freudig drauf reagiert", erzählt die Pfarrerin des besagten Gemeindezentrums Anke Augustin. Als Person und Theologin habe sie schon lange ökumenisch gearbeitet und lediglich gute Erfahrungen gemacht. Auch das evangelische Gemeindezentrum hätte langfristig geschlossen werden müssen, ist es ebenso von einer Insellage geprägt. Durch den katholischen Zuzug und die daraus resultierende Mietzahlung ist es für die nächsten fünf vertraglich vereinbarten Jahre gesichert. Denn die evangelische Gemeinde wird sonntäglich ebenfalls von etwa 30 bis 50 eher älteren Menschen besucht. Die zwei aufeinandertreffenden Gruppen sind sich dahingehend also ähnlich.

„Als Theologin ist für mich schon lange klar, dass nicht eine einzelne Kirche die Wahrheit hat – auch meine nicht.“

—  Zitat: Pfarrerin Anke Augustin

Trotzdem sei die Schließung der katholischen Kirche und des anliegenden Gemeindezentrums zunächst ein Schock gewesen, sagt Pfarrer Wichmann. "Doch es gab schon immer ein ökumenisches Zusammenspiel, allein durch die Nachbarschaft." Auf evangelischer Seite sieht das ganz ähnlich aus, erklärt Pfarrerin Augustin. Den "Zusammenzug" sehen beide Geistliche als Chance für die Ökumene. "Als Theologin ist für mich schon lange klar, dass nicht eine einzelne Kirche die Wahrheit hat – auch meine nicht", sagt Augustin. Die katholische Kirche sei in ihrem Bilder- und Metapherreichtum eine gute Ergänzung und könne "Dinge aussagen, die in unserer Theologie nicht sagbar sind oder im Laufe der theologischen Entwicklung verloren gegangen sind", so die Pfarrerin.

Zusammenarbeit in der Zukunft

Pfarrer Wichmann ist wichtig, "dass wir deutlich machen, dass es Aufbrüche gibt und dass wir als Christinnen und Christen nur ökumenisch bestehen können". Ebenso wie die evangelische Pfarrerin kann er sich ökumenische Projekte vorstellen. Die Gottesdienste der katholischen Kindertagesstätte, die sich noch auf dem Gelände der katholischen Kirche befindet, werden in Zukunft ökumenisch im evangelischen Gemeindezentrum gefeiert. Liturgisch als auch "praktisch", beispielweise durch das Bestreiten der Bistumswanderwege, gebe es einige Visionen, sagt der Pfarrer. Auf beiden Seiten würden sich auch Jüngere dabei engagieren. Augustin denkt etwa an einen ökumenischen Gesprächskreis.

Bild: ©Bistum Essen/Alexandra Roth

Pfarrer Christoph Wichmann, Ruhrbischof Franz-Josef Overbeck und Pfarrerin Anke Augustin (v.l.) vor dem evangelischen Gemeindezentrum.

Für die katholische Gemeinde sei zudem von Vorteil, dass das evangelische Gemeindezentrum ebenerdig und barrierefrei sei. Denn bei dem 2004 erbauten Haus handelt es sich nicht um eine Kirche, sondern um einen multifunktionalen Gemeinderaum, der in die eine Richtung sowohl sakral gestaltet ist, aber auch in die andere Richtung als Saal genutzt werden kann. Dreht man die Stühle um, ändert sich die Funktion. 120 Menschen finden darin Platz.

Ein wenig Heimat finden die Katholiken auch in dem Gemeindezentrum: Nicht von allem mussten sie sich verabschieden, die Kreuzwegbilder und eine Marienfigur fanden dort ihren Platz. Das sieht Wichmann als "großes Glück" und rechnet es den Protestanten hoch an. "Da bewegt sich eine evangelische Gemeinde enorm. Wenn man in den Raum reinkommt, lacht einen als erstes die Mutter Gottes mit dem Jesuskind auf dem Schoß an. Das ist jetzt nicht unbedingt urtypisch evangelisch."

Bild: ©Bistum Essen/Alexandra Roth

Eine Marienfigur nahmen die katholischen Gläubigen aus ihrer Kirche mit ins evangelische Gemeindezentrum.

Pfarrerin Augustin habe ohnehin schon immer eine Marienfigur haben wollen, sagt sie. "Ich habe in meinem Leben als Christin eine persönliche Freude an Maria gefunden. Sie ist für mich ein Symbol." Daher sei die Figur nicht nur ein "ästhetischer Gewinn". Die Gläubigen hätten diese und den Kreuzweg akzeptiert, damit die Katholiken, die "ihr Zuhause verlieren" etwas aus der "Heimat" mitnehmen könnten.

Gottesdienst-Zeiten passen zueinander

Wohlwollen zeichnet sich also auf beiden Seiten ab. So sei es "Zufall oder göttliche Fügung" gewesen, sagt Augustin, dass die Gottesdienst-Zeiten zueinander passten. Während der evangelische Gottesdienst an jedem zweiten und vierten Sonntag im Monat stattfinden sollte, war den Katholiken der erste Sonntag wichtig. Zusätzlich gibt es jeden Dienstag einen katholischen Gottesdienst. Augustin betont, eine Art Hausrecht wolle sie nicht beanspruchen, sodass die Katholiken nur "die Lücken" abbekommen würden. "Wenn es mal Kollisionen gibt, bekommen wir das so hin, dass die zurückstecken, die den geringeren Verlust haben." Insgesamt liefen die Regelungen bisher unkompliziert, bestätigen Augustin und Wichmann. "Easy going", sagt Augustin. "Win-win", sagt Wichmann. Weiteres zeige die Zeit.

Am vergangenen Wochenende dann der Umzug: Noch ein letztes Mal feierten die Gläubigen in ihrer Kirche. Nach dem Pontifikalamt mit dem Essener Bischof Franz-Josef Overbeck zogen sie symbolisch samt Kreuzweg und Marienfigur zum evangelischen Gemeindezentrum – jedoch nicht in liturgischer Prozession mit Bannern, Messdienern, Bischof und Pfarrer, sondern in zivil, erklärt Pfarrer Wichmann: "Wir wollten deutlich machen, dass wir uns auf Augenhöhe begegnen. Das sollte keine feindliche Übernahme werden." Und die Protestanten? Sie begegneten den Katholiken bei ihrem "Einzug" mit Applaus.

Von Melanie Ploch

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