Die heilige Anna Schäffer und ein "Kreuzweg der Kranken"

Den Weg der Krankheit sinnvoll und spirituell deuten

Veröffentlicht am 09.04.2020 um 13:28 Uhr – Lesedauer: 

Ingolstadt ‐ Eine schwere Krankheit ist ein tiefer Einschnitt in der eigenen Biografie und eine traurige Erfahrung, die wohl jeder Mensch mindestens einmal im Leben macht. Wie eine solch bedrückende Situation jedoch zur Reifung eines Menschen führen kann, zeigt Christoph Kreitmeir.

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Irgendwann erwischt jede und jeden von uns eine Krankheit. Nicht nur eine Erkältung, sondern wirklich etwas Ernstes, etwas, was das gesamte bisherige Leben verändern kann. Denn, nicht nur Glück und Freude, sondern auch Not, Krankheit und Leid bestimmen seit Menschengedenken unser Dasein und Leben.

Wenn einen dann die Krankheit heimgesucht hat, führen verschiedene Wege zu denen, die zu helfen versuchen: Hausarzt, Sanitäter, Notaufnahme im Krankenhaus, Intensivstation, Normalstation. Verschiedenste Interventionen helfen dabei, dass die Notlage behoben wird und der Patient im besten Falle sehr bald halbwegs wiederhergestellt zurück nach Hause kann.

Was ist aber bei chronischen Erkrankungen, bei Diagnosen, die immer wieder ärztliche Interventionen, Krankenhausaufenthalte oder Chemotherapie nach sich ziehen? Wie geht es dem Patienten, der Patientin dann nicht nur körperlich, sondern auch psychisch und seelisch? Der "Sturz aus der Wirklichkeit" zieht nicht nur Ängste, Niedergeschlagenheit, Antriebslosigkeit, Depression oder Hoffnungslosigkeit nach sich. Denn, sobald wir dauerhaft oder schwer krank werden, tauchen in uns auch Fragen auf: Warum? Was habe ich falsch gemacht? Wie geht es weiter? Der spirituell-christliche Mensch fragt obendrein dann auch nach Gott und dessen Hilfe.

Da ich selbst schon viel und leider auch öfters schwer krank war, sind mir die bisher genannten Szenarien sehr vertraut. Über einige Umwege bin ich nun sogar Krankenhausseelsorger geworden. Ich darf also ein Wegbegleiter für Patienten sein. Neben meiner persönlichen Gesundheits- und Krankheitsgeschichte sind mir verschiedenste Ansätze zu echten Quellen der Hilfe geworden – eine sinnzentrierte Psychotherapie zum Beispiel. Denn Sinn ist das vorrangige Motiv menschlichen Lebens. Sinn ist das, was wir Menschen vor allem anderen brauchen, denn ohne Sinn ist alles nichts. Der Mangel an Sinn zieht den Mangel an Motivation zum Leben nach sich. Der Theologe und Logotherapeut Uwe Böschemeyer nennt Sinn das,

  • was mir hier und jetzt das Wichtigste, die Hauptsache ist,
  • was mich unmittelbar angeht und betrifft,
  • wozu ich stehen kann und will,
  • weshalb und wofür ich leben kann und will und
  • wodurch ich mit mir eins werde.
Im Vordergrund ein Rollstuhl im Hintergrund eine Pflegerin die eine alte Frau im Rollstuhl schiebt.
Bild: ©Peter Atkins/Fotolia.com

Krankheit ist ein "Sturz aus der Wirklichkeit", schreibt Christoph Kreitmeir.

Auch das Sich-Auseinander-setzen mit anderen Menschen, die mit Krankheit und Leid umgehen mussten, ist eine große Hilfe. Der französische Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger André Gide schrieb 1948 in einer Zeit eigenen schweren Leidens in sein Tagebuch: "Ich glaube, dass Krankheiten Schlüssel sind, die uns gewisse Tore öffnen können. Ich glaube, es gibt gewisse Tore, die einzig die Krankheit öffnen kann. Es gibt jedenfalls einen Gesundheitszustand, der es uns nicht erlaubt, alles zu verstehen. Vielleicht verschließt uns die Krankheit einige Wahrheiten; ebenso aber verschließt uns die Gesundheit andere oder führt uns davon weg, so dass wir uns nicht mehr darum kümmern. Ich habe unter denen, die sich einer unerschütterlichen Gesundheit erfreuen, noch keinen getroffen, der nicht nach irgendeiner Seite hin ein bisschen beschränkt gewesen wäre, - wie solche, die nie gereist sind."

Es geht also darum, für verschiedene Türen und Tore, die in neue und weite Räume führen, die richtigen Schlüssel zu finden. Krankheiten sind solche Schlüssel am Schlüsselbund des Lebens. Das Ringen um und das Suchen nach Sinn und die spirituell-religiöse Einbindung in eine höhere Geborgenheit und Sinnhaftigkeit, die wir Gott nennen, sind weitere.

Der Blick auf Heilige kann das eigene Leiden weiten

Im Laufe der Kirchengeschichte entwickelten sich bei Christen bestimmte Frömmigkeitsformen heraus, die auf spezielle Art und Weise helfen wollten, eigenen Schmerz und eigenes Leid verarbeiten und annehmen zu können. Ab dem 14. Jahrhundert verbreiteten vor allem die Franziskaner die spezielle Frömmigkeit der Kreuzwegandacht, deren Ursprung in Jerusalem liegt. Im Betrachten, symbolischen Nachgehen und Beten erlebt der Gläubige im Blick auf Jesus Trost im eigenen Schmerz. Der "Störfaktor Leid" bekommt dadurch eine neue Sinndeutung.

Der Blick auf Heilige, die wie die heiligen Sebastian, Franz von Assisi, Padre Pio und viele andere heroisch und sich selbst überschreitend, schweres Leid bewältigen konnten, kann dem gläubigen Christen das eigene Leiden weiten. Es ist wie, wenn ein Freund einen versteht und mit einem durch alles hindurchgeht.

In neuerer Zeit erlitt eine einfache Magd aus Mindelstetten ihre persönliche Katastrophe. Am 4. Februar 1901 verbrühte sich Anna Schäffer im Alter von 18 Jahren in einer Waschküche beide Beine so schwer, dass sie fast 25 Jahre ans Bett gefesselt war. Im Laufe dieser Leidensgeschichte – sie musste 30 Mal operiert werden – entwickelte sie durch ihre Frömmigkeit die Fähigkeit, ihre Lebensbrüche im Blick auf Jesus und Maria nicht nur anzunehmen, sondern mit Sinn zu erfüllen. Aus etwas Negativem konnte sie mit Gottes Hilfe etwas Positives schaffen und dadurch für viele Menschen damals wie auch heute im Umgang mit körperlichem und/oder seelischem Leid ein Vorbild sein. Sie zerbrach nicht, sondern reifte.

Historische Aufnahme von Anna Schäffer mit ihrer Mutter, Theresia.
Bild: ©KNA

Eine historische Aufnahme der heiligen Anna Schäffer.

Gerade mit Blick auf Ostern kann es sich lohnen, die Leidensgeschichte dieser einfachen Frau mit den Kreuzwegstationen Jesu Christi und einer psychologischen Perspektive zu verbinden. Es entsteht ein "Kreuzweg der Kranken", der als Wegstrecke der Krankheitsbewältigung funktionieren kann und mit Blick auf Jesus auch über den Tod hinaussieht:

  • Die Krankheit bricht ins Leben ein
    Wie aus dem Nichts trifft einen eine mehr oder weniger schwere Krankheit. Ein Gefühlscocktail von Schock, Nicht-wahrhaben-wollen, Angst, Panik u.v.m. kommt in Gang. Was kann ich tun? Wer hilft mir? Es geht ums Akzeptieren, dass es so ist und ums Finden von guten Lösungsstrategien. Der mündige und informierte Patient denkt mit den Helfern konstruktiv und unterstützend mit.
  • Ringen und Annehmen der Krankheit
    Das Ringen mit Einschränkungen, Schmerzen und evtl. Operationsfolgen und das Annehmen von Unabänderlichem, das Vertrauen auf gute Hilfe, ein Grundvertrauen in die Medizin und auch ein grundsätzliches Ur- oder Gottvertrauen schenken Kraft und Gelassenheit in der Auseinandersetzung mit der Krankheit. Gelassenheit und Vertrauen bündeln Energien und stärken das gesamte körperliche, seelische und geistige Immunsystem.
  • Das schwere Kreuz der Krankheit
    Wenn es nun doch schlimmer, langwieriger oder komplizierter als erwartet geworden ist, dann ist es wichtig, Ausdauer und Energiereserven zu haben und/oder diese immer wieder "nachzutanken". Diese Resilienz (seelische Widerstandskraft) kann man präventiv einüben, man kann sie aber auch im Durchleiden der Erkrankung einüben. Optimismus, Realismus, Gefühlsstabilität, Selbstbewusstsein und Kontaktfreude sind tragende Pfeiler dieser inneren Stärke.
  • Mittragen und Hilfe in der Krankheit
    Es gibt Situationen und Zeiträume bei schweren Erkrankungen, wo wir den Einsatz und die Hilfe anderer dringend, ja lebensnotwendig benötigen. Dies gilt in medizinischer, pflegerischer, sozialer, psychologischer und auch spiritueller Hinsicht. Trost spenden und Trösten, unterstützendes dem Kranken Beistehen sind nicht zu unterschätzende Hilfen bei der Stärkung von Kranken.
  • Im eigenen Leid anderen beistehen
    Menschen, die an ihrem eigenen Leid wachsen, können anderen Kranken auf ganz besondere Weise zu aufbauenden Helfern werden, da sie wissen und fühlen, wovon sie reden. Nicht selten werden solche an ihrem Leid gereifte Kranke für ihre Angehörigen, die Zimmernachbarn, ja sogar für die Pflegenden und Ärzte zum Geschenk und strahlen Hoffnung aus. Diese innere Einstellung kann auch in deren Gebet für andere einmünden.
  • Die Krankheit führt zum Tod
    Wenn die Krankheit zum Sterben und zum Tod führt, dann hinterlässt dies nicht selten Gefühle wie Verzweiflung, Leere und Trostlosigkeit. Gleichzeitig meldet sich die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod, auf Kraft, dies alles durchstehen zu können und auf ein Wiedersehen im "Himmel". Menschen, die einem in solch schweren Zeiten beistehen, sind überaus wertvoll. Und auch ein Ort wie ein Grab, wo die Trauer ein Zuhause finden kann, hilft, den unabänderlichen und endgültigen Tod des geliebten Menschen in einem neuen Licht zu sehen.
  • Menschlicher und göttlicher Beistand
    Neben den persönlichen Trauerorten gibt es andere Orte, die einem im Laufe der Zeit helfen, dem Verstorbenen eine neue Heimat im eigenen Herzen, gepaart mit der Hoffnung einer Heimat für ihn bei Gott zu geben. Stelen, Kapellen, Kirchen, Wallfahrtsorte helfen genauso wie das sich Hinwenden zu Fürsprechern und himmlischen Helfern, wie es für Katholiken die Muttergottes und die Heiligen sind. Solche Vertrauensverhältnisse sind sehr hilfreich beim Suchen und Finden von neuem Halt und neuer Zukunft.
  • Frieden finden und neu werden
    Die Liebe zu einem verstorbenen Menschen endet nicht mit seinem Tod. Liebe ist stärker als der Tod. Dieser Satz ist eine Tatsache und auch die Grundlage des christlichen Glaubens: Gott ist die Liebe und Jesu Auferweckung zeigt die Unsterblichkeit der Liebe. Wer lernt, anfangs zaghaft, im Laufe der Zeit immer sicherer werdend, in dieses Geheimnis hineinzuleben, dem wächst eine innere Reife und Stärke, eine "Auferstehungskraft" zu, die immer wieder Licht in die Dunkelheiten des Lebens bringt.

Anna Schäffer war zeit ihres Lebens von dieser Auferstehungskraft beseelt. Als Kundige im Leiden konnte sie durch ihren tiefen Glauben und ihren eigenen Erfahrungen mit Schmerz, Unabänderlichem und Frustrierendem damals wie heute Kranken und Sterbenden und deren Angehörigen zu einer echten "Freundin im Himmel" werden. Altmodisch klingende Worte wie "Gottergebenheit", "Aufopferung und Sühne", "Geduld", "Demut" und "Frömmigkeit" bekommen bei Anna Schäffer und ihrem Umgang mit Schmerz, Not und Leid eine neue Dimension und Ehrlichkeit, die heutige Menschen in ihrer Tiefe berühren. Der Ort ihrer Grabstätte in der Kirche von Mindelstetten wurde zum vielbesuchten Wallfahrtsort von Rat- und Trostsuchenden von überall.

Von Christoph Kreitmeir

Hinweis

Der Artikel basiert auf dem Buch "Die Hoffnung hilft auf - Den Kreuzweg der Kranken beten nach der hl. Anna Schäffer" des Autors Christoph Kreitmeir.