Die Fastenlieder im Gotteslob und ihre Bedeutung
Bekehre uns, vergib die Sünde (GL 266)
Das erste Lied, das im neuen Gotteslob in der Rubrik "Fastenzeit" zu finden ist, greift sehr nachdrücklich die klassischen biblischen Motive auf, die mit der österlichen Bußzeit verbunden sind: Bekehrung, Vergebung der Sünden und Barmherzigkeit. Oder, wie es im Kehrvers des Liedes heißt: "Bekehre uns, vergib die Sünde, schenke, Herr, uns neu dein Erbarmen." Sehr gut fasst der Kehrvers die Grundgedanken der österlichen Bußzeit zusammen und eignet sich deshalb besonders gut als Gesang an den Fastensonntagen.
Der Kehrvers basiert auf einem alten lateinischen Ruf: "Attende, Domine, et miserere, quia peccavimus tibi" ("Merk auf, Herr, und erbarme dich, denn wir haben gegen dich gesündigt"). Josef Seuffert hat den lateinischen Text ins Deutsche übertragen. In den sieben Strophen konkretisiert er die fastenzeitliche Trias aus Bekehrung, Vergebung und Barmherzigkeit. Die Strophen machen deutlich, was es heißt, Barmherzigkeit zu schenken und sich neu zu Gott zu bekehren.
Die Strophen des Liedes orientieren sich sehr stark an biblischen Texten. So klingt in der ersten Strophe das Wort aus dem Johannesevangelium an: "Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, damit er die Welt richtet, sondern damit die Welt durch ihn gerettet wird" (3,17). Die zweite Strophe erinnert an den nachdrücklichen Ruf Jesu, umzukehren, weil das Ende kurz bevorsteht. Einen Vers aus dem 95. Psalm spielt die dritte Strophe ein: "Würdet ihr doch heute auf seine Stimme hören" (V. 7b) Dabei wird deutlich, dass das Tun des Guten eng mit dem Hören auf die Stimme Gottes verbunden ist. Doch wie wird das Gute konkret? Die sechste Strophe beantwortet dies: "Tut Gutes allen, helft den Unterdrückten und stiftet Frieden: Liebet euren Nächsten. Dies ist ein Fasten in den Augen Gottes."
Das stark biblisch orientierte Lied aus der Feder von Josef Seuffert fasst sehr präzise den Grundtenor der Fastenzeit zusammen. Es lässt sich deshalb während der gesamten österlichen Bußzeit singen.
Kreuz, auf das ich schaue (GL 270)
Das recht junge Lied entstand 1982 auf einer Tagung von Komponisten. Die Melodie hat der evangelische Kirchenmusiker Lothar Graap geschrieben, der Text stammt aus der Feder des Berliner Autors Eckart Bücken. Interessant ist dabei, dass der Text keine Neudichtung darstellt, sondern in Anlehnung an ein Lied von C.F.A. Krummacher aus dem Jahr 1857 entstanden ist. Dieses Lied beginnt mit der Zeile "Stern, auf den ich schaue, Feld auf dem ich steh". Allerdings befindet sich gleich im Vers eins eine teils sehr missverständliche Aussage: "Führer, dem ich traue." Obwohl im ursprünglichen Lied eindeutig Christus angesprochen ist, setzt Eckart Bücken anstelle der vielen Christusbezeichnungen das Kreuz.
"Kreuz, auf das ich schaue" ist ein modernes Lied für die Fastenzeit, das nicht wie die älteren Passionslieder vor allem die negativen Seiten des Kreuzestodes betrachtet. Weder Erniedrigung noch der Schmerz der Kreuzigung oder die Ohnmacht des Gekreuzigten werden im Lied thematisiert. Vielmehr überwiegen die positiven Konnotationen: Das Kreuz schenkt Hoffnung, es ist Fluchtpunkt in der Dunkelheit und eng mit dem Anbruch eines neuen Tages verbunden. Der Liedtext schaut von Ostern her auf das Kreuz und zeigt dadurch, dass das Kreuz als Marterwerkzeug seinen Schrecken verloren hat. Das Kreuz ist das Urzeichen christlicher Hoffnung und der Ort, von dem her Auferstehung und neues Leben möglich werden.
Die Melodie ist – wie für viele Fastenzeitlieder üblich – in einer Moll-Tonart notiert. Das Lied wirkt durch die vier Viertel beschwingt, doch die Bewegung wird stets unterbrochen. Es scheint, als wollten die bewusst gesetzten halben beziehungsweise die ganze Note den Duktus des Liedes immer wieder einbremsen. So stehen Melodie und Text in enger Verbundenheit. Das Kreuz ist zwar Hoffnungszeichen und Anbeginn des neuen Tages. Aber es ist eben immer noch das Kreuz, der Ort des Sterbens und des Todes. Beides verbindet das Lied auf sehr eindrückliche Weise, ohne dabei eine Sichtweise zu bevorzugen.
Zeige uns, Herr, deine Allmacht und Güte (GL 272)
Ein ebenfalls recht junges Lied ist "Zeige uns, Herr, deine Allmacht und Güte", das für den Katholikentag 1982 in Düsseldorf entstanden ist. Der Text wurde von Raymund Weber geschrieben, die Melodie stammt von einem skandinavischen Volkslied. Sehr bewusst wurde der Liedtext an das Motto des Katholikentags "Kehrt um und glaubt – erneuert die Welt" angelehnt. Wohl auch aufgrund des zentralen Umkehrgedankens wurde das Lied im neuen Gotteslob in der Rubrik "Fastenzeit" aufgenommen, allerdings mit einer anderen, traditionellen Melodie aus dem evangelischen Pietismus.
Der Text selbst ist relativ klassisch angelegt: Die Themen reichen von der Bitte um Erhörung der Gebete und die Sendung des Heiligen Geistes (1. Strophe), über die Hoffnung auf das Wachsen des Gottesreiches auf Erden (2. Strophe) bis hin zum erneuten Ruf zur Umkehr, wenn Menschen sich in Leid und Schuld verstricken (3. Strophe). Obwohl der Liedtext durch die traditionellen Themen der Fastenzeit mitunter recht altbacken daherkommt, wirkt die Melodie im Dreivierteltakt sehr beschwingend. Es scheint, als wolle die Melodie die Schwere des Textes einigermaßen mildern. Sie weckt damit die Hoffnung, dass auch die österliche Bußzeit trotz Umkehr und Bekehrung getragen ist von Gottes lebensspendender Kraft, die gerade aus der Umkehr erwächst.
Und suchst du meine Sünde (GL 274)
Dass ein Lied, dessen Text aus der Feder eines jüdischen Schriftstellers und Dichters stammt, auch in die Reihe der Fastenzeitlieder Eingang gefunden hat, ist eine glückliche und schöne Fügung. Schalom Ben-Chorin, der 1913 als Fritz Rosenthal in München geboren wurde, hat vor allem mit seinem Gedicht "Freunde, dass der Mandelzweig wieder blüht und treibt" große Bekanntheit erlangt. Noch heute findet sich der Text vertont in vielen Liederbüchern. Mit "Und suchst du meine Sünde" hat Ben-Chorin einen zentralen Gedanken aus der jüdischen Tradition aufgegriffen und ihn in seinem Gedicht verarbeitet. Dieses ist 1966 in seinem Lyrikband "Aus Tiefen rufe ich – biblische Gedichte" unter der Überschrift "Von dir zu dir" erschienen.
Die erste Strophe des Textes fasst einerseits Gottes Allgegenwart ins Wort: Wenn Gott die Menschen sucht, dann können sie sich nicht vor ihm verbergen. Er ist immer und überall da, man kann sich nur zu ihm flüchten, aber nie vor ihm fliehen. Er ist der, der da ist – und zugleich ist seine Präsenz immer wieder verschleiert und verborgen. Er ist "fern und nah bei mir". Das zeichnet den Gott aus, der sich dem Mose am Dornbusch als der Daseiende offenbart. In der zweiten Strophe wird dieser Gedanke noch einmal vertieft: "Wie ich mich wend' und drehe, geh ich von dir zu dir". Von Gott wegzugehen ist unmöglich. Der Psalm 139 bringt das ins Wort: "Wohin kann ich gehen vor deinem Geist, wohin vor deinem Angesicht fliehen? Wenn ich hinaufstiege zum Himmel – dort bist du; wenn ich mich lagerte in der Unterwelt – siehe, da bist du. Nähme ich die Flügel des Morgenrots, ließe ich mich nieder am Ende des Meeres, auch dort würde deine Hand mich leiten und deine Rechte mich ergreifen." (VV. 7-10) All diese Gedanken fließen in die dritte Strophe ein: "Von dir zu dir mein Schreiten, mein Weg und meine Ruh'." Was man auch tut, alles geschieht vor Gottes Angesicht. Alles Leben vollzieht sich in der Gegenwart des lebendigen Gottes, der sich immer neu des Menschen annimmt und sich seiner erbarmt.
Leben in der Gegenwart Gottes: So könnte man den Text von Ben-Chorin überschreiben. Ein Text, der sehr stark in der jüdischen Tradition verhaftet ist und sich ohne ihre Gedankenwelt nicht verstehen lässt. Auch im Sinne der jüdisch-christlichen Beziehungen ist es gut, dieses tiefgründige Lied in der Fastenzeit (wieder) zu entdecken.