Geschichte und Bedeutung des Begleitgesangs zur Kreuzverehrung

"Mein Volk, was habe ich dir getan?" – Die Improperien des Karfreitags

Veröffentlicht am 10.04.2020 um 13:20 Uhr – Lesedauer: 

Bonn ‐ Wenn die Gläubigen am Karfreitag das Kreuz verehren, stimmt der Chor oder ein Kantor ein Klagelied an, das Jesus in den Mund gelegt wird: die sogenannten Improperien. Katholisch.de erklärt ihre Entstehungsgeschichte und Bedeutung.

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Es ist einer der dichtesten Momente im ganzen Kirchenjahr, wenn die Gläubigen bei der Feier vom Leiden und Sterben am Karfreitag vor das enthüllte Kreuz treten. Sie beugen ihre Knie und danken so dem Erlöser für seine Heilstat. Untermalt wird dieser Moment von eindringlichen Zeilen, die in den meisten Fällen der Kirchenchor vorträgt. Deren Kehrvers hört sich in etwa so an: "Mein Volk, was habe ich dir getan, womit nur habe ich dich betrübt? Antworte mir!"

Dieser Gesang ist seit Jahrhunderten ein wichtiger Bestandteil der Karfreitagsliturgie. Es handelt sich dabei um die sogenannten Improperien: ein Klagelied, das dem am Kreuz hängenden Jesus in den Mund gelegt wird. Der Begriff stammt vom lateinischen Wort "probum", was übersetzt Vorwurf oder Schelte bedeutet. Ihre ausführliche Fassung, der alle Vertonungen zugrunde liegen, kann im Messbuch nachgeschlagen werden. Dort sind sie in zwei Abschnitte gegliedert, die während der Kreuzverehrung aneinander anschließen.

Die großen Improperien bestehen aus drei Versen, auf die jeweils das Trishagion ("Heiliger Gott, heiliger starker Gott, heiliger unsterblicher Gott, erbarme dich unser") folgt. Der erste Vers beginnt mit der Anrede "Mein Volk, was habe ich dir getan?" Formal und inhaltlich leben die großen Improperien von ihren Gegenüberstellungen. Sie kontrastieren die Wohltaten Gottes an seinem Volk Israel während des Auszugs aus Ägypten mit dem Undank des Volkes und Handlungen, die zum Leiden und Sterben Jesu führen. So heißt es etwa im zweiten Vers: "Vierzig Jahre habe ich dich geleitet durch die Wüste. Ich habe dich mit Manna gespeist und dich hineingeführt in das Land der Verheißung. Du aber bereitest das Kreuz deinem Erlöser."

Ein gekreuzigter Christus hängt an einem Kruzifix in der Jesuitenkirche Il Gesu in Rom.
Bild: ©katholisch.de

Ein zentraler Bestandteil der Karfreitagsliturgie ist die Kreuzverehrung: Die Gläubigen knien vor dem gekreuzigten Christus und danken ihm für seine Erlösungstat.

Die kleinen Improperien bestehen aus neun antithetischen Versen, die wechselnd mit "Ich" und "Du aber" beginnen. Auch sie stellen eine alttestamentliche Heilstat Gottes einem Detail aus der Passion gegenüber, sind aber regelmäßiger gegliedert als die großen Improperien. Sehr häufig verwendet die erste Vershälfte dasselbe Verb wie die kontrastierende zweite Hälfte, so dass sich die Bedeutung desselben Verbs durch das veränderte Subjekt und den neuen Kontext vom Positiven zum Negativen verkehrt. "Ich habe dir Wasser aus dem Felsen zu trinken gegeben und dich gerettet, du aber hast mich getränkt mit Galle und Essig", heißt es etwa im sechsten Vers der kleinen Improperien.

Die großen Improperien sind älter und lassen sich erstmalig in der altspanischen Liturgie des 6. oder 7. Jahrhunderts nachweisen. Sie wurden zunächst gesungen, als das Kreuz in die Kirche hineingetragen wurde. Die kleinen Improperien sind etwa im 11. Jahrhundert in Norditalien entstanden. Die großen und kleinen Improperien wurden schließlich miteinander verknüpft und 1474 erstmals zusammen ins Missale Romanum, das römische Messbuch, aufgenommen. In dieser Form wurden sie nach dem Konzil von Trient (1545-63) über das Missale Romanum von 1570 bis in das heutige Messbuch weitertradiert.

Außerliturgische Vorbilder

Beide Teile sind zwar unabhängig voneinander entstanden, inhaltlich und formal weisen sie allerdings eine ähnliche Struktur auf: Die "Chronologie" der Ereignisse richtet sich nicht nach dem Ablauf der Passion Jesu, sondern nach dem des Exodus. Daher liegt der Verdacht nahe, dass sie auf außerliturgische Vorbilder zurückgreifen. Und tatsächlich führt die Suche nach Vorformen der liturgischen Improperien zunächst zu den Propheten des Alten Testament. Die einschlägigen Texte sprechen in irgendeiner Form das befreiende Handeln Gottes beim Exodus an. Dies geschieht aber nicht nur als Lob- und Dankhymnus für Gottes Großtat, sondern in bewusster Gegenüberstellung mit dem "Undank" des Volkes: als prophetische Schelt- oder Gerichtsrede.

Der erste Prophetentexten, der in Bezug auf die Improperien eine wichtige Rolle spielt, ist das Buch Micha. Im sechsten Kapitel heißt es: "Mein Volk, was habe ich dir getan und womit habe ich dich ermüdet? Antworte mir" (Mi 6,3). Aufmerksame Beobachter merken sofort, dass diese Stelle das Vorbild für den einleitenden Vers der großen und für den Kehrvers der kleinen Improperien lieferten. Daran schließt sich der Hinweis an, dass Gott das Volk Israel aus Ägypten geführt und es "freigekauft" hat aus dem "Sklavenhaus". Der Prophet Micha tadelt also das Verhältnis Israels zu Gott.

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Kontrastreiche Gegenüberstellungen der Taten Gottes und der seines Volkes, wie sie schließlich die christlichen Improperien aufzeigen, finden sich auch bei Nehemia. Die Stelle hat allerdings eine weitere frappierende Gemeinsamkeit mit den Improperien: den doppelten Gebrauch eben derselben Verben für Gott und für das Volk, die Verwendung derselben Substantive für Wohltat und Undank, für Wohlergehen und Not. Das veränderte Subjekt und das konträre Handeln machen die eigenartige Duplizität der Sprache aus – wie bei den Improperien.

"Ziel dieser prophetischen Kritik ist es, das Volk Israel zu einer neuen Zuwendung zu Gott zu bewegen", sagt der Eichstätter Liturgiewissenschaftler Marco Benini, der momentan als Gastprofessor an der Catholic University of America in Washington lehrt. Die Motive der Propheten haben zeitweise – so wird vermutet – Eingang in die jüdische Pessach-Haggada gefunden. Wenn am Seder-Abend, also am Beginn von Pessach, die Heilstaten Gottes erzählt wurden, führten sich die Juden auch ihr eigenes Fehlverhalten gegenüber Gott angesichts des Exodus vor Augen.

Christlicher Antijudaismus?

Einen ersten außerliturgischen christlichen Nachweis für die Improperien gibt es im zweiten Jahrhundert. Der frühchristliche Apologet Melito von Sardes greift die alttestamentlichen "Vorwürfe" Gottes an sein Volk in einer Predigt auf und bringt sie mit dem Kreuzestod Jesu in Verbindung. Er verwendet zwar noch nicht das gleiche Schema wie die heutigen Improperien, stellt aber grundsätzlich die Liebe Gottes zu seinem Volk, die im Tod Jesu gipfelt, der Untreue der Menschen gegenüber. Diese paart er allerdings mit einigen antijüdischen Aussagen. "Diese kulminieren in dem Vorwurf des Gottesmords und des Unglaubens der Juden", erläutert Benini.

Melito von Sardes hat, zusammen mit den alttestamentlichen Propheten, die Entstehung der christlichen Improperien zwar maßgeblich beeinflusst – seine antijüdische Polemik hat jedoch keinen Eingang in deren Text gefunden. Dennoch gab es vor allem im Mittelalter dezidiert antijüdische Auslegungen der Improperien. Der Vorwurf, Motive des christlichen Antijudaismus zu transportieren, begleiten sie bis heute: Kritiker erkennen darin versteckt die Auffassung, dass Israel die wahre Bedeutung Jesu nicht erkannt und ihn verworfen habe.

Linktipp: Karfreitag: "Es ist vollbracht!"

Der Karfreitag ist ein besonderer Tag. Es geht um das Leiden, die Kreuzigung und den Tod Jesu – und was das für die Christen bedeutet. Besonders ist auch die Liturgie an diesem Tag.

Für Marco Benini gibt das aber weder der Wortlaut der Improperien noch deren liturgischer Kontext her. Es heiße schließlich "mein Volk" – und nicht "ihr Juden". Außerdem singe oder spreche die christliche Gemeinde die Improperien – in Anlehnung an die alttestamentlichen Propheten – als Bußgesang: Die Gläubigen sollen an dieser Stelle ihr eigenes Verhalten zu Christus überdenken. Laut Benini muss man sich immer vor Augen führen, dass Christus selbst das "Ich" in den Improperien ist. Ihm werden, basierend auf einer frühchristlichen Tradition, die sich schon bei Paulus nachweisen lässt (vgl. 1 Kor 10,4), die alttestamentlichen Heilstaten zugeschrieben. Diese gipfeln schließlich in seiner Lebenshingabe am Kreuz. "Er spricht zu denen, die in dem Moment vor das Kreuz treten, und spricht diese als sein Volk an."

Der Liturgiewissenschaftler betont, dass die Improperien als Aufruf zu verstehen sind. "Der Beter oder Zuhörer soll nicht mit Hartherzigkeit auf den Kreuzestod Jesu reagieren, sondern sich von seiner Liebe ansprechen lassen und ihm für die Erlösung danken." Ganz so, wie auch die Gottesklagen im Alten Testament eine neue Zuwendung Israels zu Gott, der viele Heilstaten an seinem Volk vollbracht hat, erreichen wollen. Diese Art der Selbstkritik hat sich die Kirche in den Improperien des Karfreitags zu eigen gemacht.

Von Matthias Altmann