Kolumne: Mein Religionsunterricht

"Ich wäre damals wohl nicht als Verstärkung unter dem Kreuz erschienen"

Veröffentlicht am 10.04.2020 um 15:10 Uhr – Lesedauer: 

Wentorf ‐ Wie Schülern die Botschaft von Jesu Tod am Kreuz nahebringen? Für Religionslehrer Heinz Waldorf ist das eigentlich eine Routine - wenn auch keine einfache. Die Corona-Krise gibt ihm jetzt Zeit, darüber noch einmal ganz neu nachzudenken.

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Karfreitag 2020, Corona-Zeit, Ausnahmezustand. Meine Straße ist mitten in der Woche so menschenleer wie am frühen Sonntagmorgen. Meine Schülerinnen und Schüler, meine Kolleginnen und Kollegen habe ich seit Wochen nicht gesehen. Ich gebe zu, dass ich die Zeit, die ich in den vergangenen dreieinhalb Wochen gewonnen habe, genossen habe. Ja, ich habe wirklich den letzten Papierstapel in meinem Büro abgearbeitet, habe Unterrichtsmaterialien entdeckt, die für die kommende Zeit vielversprechende Variationen des Üblichen werden dürften. Ich habe Klausuren durchgesehen mit viel Zeit. Ich habe gelesen und Sendungen in Radio und Fernsehen genossen, die mir unter üblichen Umständen nicht in die Sinne gekommen wären. Und nicht zuletzt habe ich meinen drei Familienmitgliedern, die systemrelevanten pflegerischen und medizinischen Tätigkeiten nachgehen, den Rücken freigehalten so gut ich es vermochte.

Kein Corona-Tagebuch

Nein, dies wird kein Corona-Tagebuch! Ich möchte nicht in die Fänge der Journalisten geraten, welche sich angesichts der aus dem Kraut schießenden Veröffentlichungen schon jetzt die Haare raufen. Zum Glück ist Karfreitag! Da ist grundsätzlich zwar auch eher schweigen und hören angebracht. Irgendetwas aber muss ich meinen Leuten in der Schule allerdings schon sagen, wenn sie (meist nicht leider!) nach der Bedeutung dieses Tages und des Kreuzes fragen.

Eine Schülerin steht im Religionsunterricht an der Tafel.
Bild: ©KNA

Der Karfreitag ist ein schwieriges Thema im Religionsunterricht

Patrik Schwarz hat in Christ&Welt (Ausgekreuzigt. C&W 14(2020), 26.III.2020, S.1) vorletzte Woche die Sache treffend auf den Punkt gebracht, wenn er sich für eine Immunisierung (ich füge hinzu: der glaubensmäßig Neunmalklugen) "gegen einen Gottesbegriff der Besitzverhältnisse" ausspricht und der Unverfügbarkeit Gottes das Wort redet. "Wer aber nach Gott greift, wie er nach Menschen greift", schreibt Schwarz, "der greift womöglich ins Leere." Denn der Christ könne, so meint er, nur auf einen "anspruchsvollen Trost" hoffen, der – so verstehe ich es – aus der schmerzlichen Erfahrung geboren wird, "von Gott einmal ganz lassen zu müssen, ehe man wieder auf ihn hoffen darf".

In eine solche Richtung geht der Unterricht, wenn das Thema Karfreitag, Kreuz und Tod Jesu, Tod Gottes auf dem Programm steht. Seit ich theologisch denke, ist es mir ein Graus Karfreitag zu feiern und schon auf den Ostersonntag zu schielen. Ich habe immer das Gefühl, diesem Tag und den schwer verdaulichen Geschehnissen nicht gerecht zu werden und das, was Jesus getan und was ihm geschehen ist, nicht ernst zu nehmen. Für mich stirbt er. Für mich stirbt Gott. Und dann ist Stille!

Und dann muss ich von meinen Vorstellungen eines Gottes, der alles in der Hand hält, lassen. Und dann versuche ich zaghaft von Neuem meine Hoffnung(en) zusammenzukratzen und mich wieder aufzumachen. Aber es ist wie mit der zerbrochenen Nussschale. Nichts und niemand vermag sie in diesem Leben wieder heilzumachen. Mein weiterer Weg ist begleitet von einer zerbrochenen Nussschale, aber er geht weiter. Für meine Schülerinnen und Schüler ist das die eigentliche Frohe Botschaft: dass man sich der Zerbrochenheit stellen kann und dennoch weitermacht.

Positiver Atheismus

Es ist jener positive Atheismus, den ich aus der jüdischen Tradition gelernt habe: Rabbi Mosche Löb sprach: "Es gibt keine Eigenschaft und keine Kraft am Menschen, die umsonst geschaffen wäre... Aber wozu mag wohl die Gottesleugnung geschaffen sein? Auch sie hat ihre Entstehung in der hilfreichen Tat. Denn wenn einer zu dir kommt und von dir Hilfe fordert, dann ist es nicht an dir, ihm mit frommem Munde zu empfehlen: Habe Vertrauen und wirf deine Not auf Gott, sondern dann sollst du handeln als wäre da kein Gott, sondern auf der ganzen Welt nur einer, der diesem Menschen helfen kann, du allein." (zitiert aus Martin Buber: Die Erzählungen der Chassidim.)

Ich brauche Gott nicht, um zu wissen, was ich in diesem Leben zu tun und zu lassen habe. Oder sind die unzähligen Menschen, die sich für andere aufreiben, dabei aber niemals eine Kirche von innen sehen, etwa keine vorbildlichen Menschen? Gott brauche ich aber, wenn ich die Forderung nach Gerechtigkeit und Versöhnung aufrechterhalten möchte, wenn die namenlosen Opfer wieder in ihr Recht gesetzt werden. Aber das ist ein eschatologisches Thema.

Linktipp: Karfreitag: "Es ist vollbracht!"

Der Karfreitag ist ein besonderer Tag. Es geht um das Leiden, die Kreuzigung und den Tod Jesu – und was das für die Christen bedeutet. Besonders ist auch die Liturgie an diesem Tag.

An Karfreitag begegnen die Schülerinnen und Schüler einem Menschen, der ernstgemacht hat mit seinen Überzeugungen. Sie machen Bekanntschaft mit einem Menschen, der sich nicht aus der Affäre gezogen hat als es ernst wurde. Sie müssen sich mit dem Faktum auseinandersetzen, dass es eine andere Welt nicht zum Nulltarif gibt, dass man, wenn man etwas zum Besseren wenden möchte, bereit sein muss Einsatz zu zeigen und sei es den des Lebens. Unsere Tochter arbeitet auf der Intensivstation einer Klinik, unser Sohn ist Rettungssanitäter. Sie stehen für die zahllosen Menschen, die derzeit alles geben und alles riskieren. Sie sind die Helden – und sie sind alles andere als fromm und sprechen kein Bekenntnis. Sie stehen in der Nachfolge Christi. Wunder kann jeder vollbringen, das ist die Botschaft. Jeder, der liebt, meint Wolfdietrich Schnurre.

Misstrauen in die eigenen Forderungen an Gott 

Zurück zum Coronatagebuch: In selbigem des Literaturhauses Graz schreibt die Schriftstellerin Valerie Fritsch über das derzeit herrschende "Menschenvakuum" auch in den Kirchen, in denen "einmal nicht nur Gott" fehle, sondern "auch seine Gläubiger mit den in den Himmel wachsenden Forderungen" ausblieben. Recht so! Oder wären wir alle, die wir dort gegen 15 Uhr sitzen, damals als Verstärkung der unter dem Kreuz ausharrenden Wenigen erschienen? Ich bestimmt nicht! Den Schülerinnen und Schülern Misstrauen in die eigenen Forderungen an Gott und ans Leben mitzugeben, ihnen Möglichkeiten angesichts der Fragilität unserer Existenz zu eröffnen und sie nicht um den Ernst des Lebens (sic!) zu betrügen, ist eine Aufgabe des Religionsunterrichts. Sonst bleiben Hoffnung und Glaube bereits hinter der nächsten Ecke angesichts eines dort von einem LKW überrollten Kindes auf der Strecke.

Meine Frau hört mir bis hierhin zu und fragt nach dem Trost angesichts solch harter Kost. Ja, es gibt in jedem Jahr die Auferstehungen! Aber sie sind mit Nelly Sachs gesprochen "in Tränen gebadet". Und der Himmel übt derzeit tatsächlich an vielen Menschen Zerbrechen. Felsenfest steht am Ende jeder Reflexion, zum Schluss jedes Erlebnisses mein von Nelly Sachs mir geschenktes Lebensmantra: "Du bist in der Gnade." In diesem Sinn wünsche ich allen Gesegnete Ostern!

Von Heinz Waldorf

Der Autor

Heinz Waldorf ist Lehrer am Gymnasium Wentorf bei Hamburg.

Linktipp: Kolumne "Mein Religionsunterricht"

Wie funktioniert Religionsunterricht heute? Genau dieser Frage geht die neue katholisch.de-Kolumne nach. Lehrer verschiedener Schulformen berichten darin ganz persönlich, wie sie ihren Unterricht gestalten, damit sie die Jugend von heute noch erreichen.