Gedanken zu Karsamstag von Notker Wolf

Corona-Pandemie: Wie wir die Einsamkeit ertragen können

Veröffentlicht am 11.04.2020 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Bonn ‐ Der Karsamstag hat den Ordensmann Notker Wolf stets beeindruckt. An diesem Tag zwischen Kreuzigung und Auferstehung müssen die Jünger Hoffnungslosigkeit, Ruhe und Einsamkeit durchstehen. Da gibt es für Wolf viele Parallelen zur Corona-Pandemie.

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Der Karsamstag ist vielleicht der menschlichste Tag in der Osterwoche: Er wird nicht als Festtag begangen, gehört aber zum Triduum Sacrum, den heiligen drei Tagen. Der menschlichste, weil hier der Mensch mit dem Tod und der gähnenden Leere des Todes konfrontiert wird. Die Brutalität der Leere, des schweigenden Gottes, all das trifft uns am Karsamstag. Und noch etwas trifft uns: die Stille und die Einsamkeit. In diesen Tagen der Corona-Pandemie viele sogar noch mehr als sonst.

Allein sterben müssen

Die Pandemie als Karsamstagserfahrung, das ist ein Gedanke, der mir in diesen Tagen immer wieder kommt. Die Stille und Einsamkeit, die vor allem Menschen, die allein leben, erfahren müssen. Oder die völlig Abgeschiedenheit, die Verzweiflung der Kranken und Sterbenden. Karfreitag ist, wenn ein an Corona sterbender Kranker allein sterben muss, ohne seine Lieben, ohne priesterlichen Segen, weil alles aus Angst vor der Ansteckungsgefahr verboten ist. Er kann sich nur hineingeben in die Einsamkeit des sterbenden Heilands und aus dieser Einheit Trost schöpfen. Karsamstag ist, wenn die Angehörigen um den Toten wissen, aber nicht an seiner Beerdigung teilnehmen können. Das Grab ist verschlossen durch einen großen Stein. Das Mittelalter hat in einfühlenden Melodien die Trauer der weinenden Marien besungen. Es sind Tränen der Einsamkeit. Und die Einsamkeit ist ein Gespenst, das derzeit sich in alle Bereiche unseres Lebens schleicht – nur ein sehr reales Gespenst. Vieles, was wir früher getan haben, ist nicht möglich. Das Leben steht still, weiten Bereichen zumindest. Der Schrecken und das Leid fesseln und lähmen, wie die Schrecken des Karfreitages.

Porträt Notker Wolf, Abtprimas der Benediktiner
Bild: ©dpa/Florian Eisele

Der Abtprimas der Benediktiner, Notker Wolf.

Mich hat der Karsamstag immer zutiefst beeindruckt: Der Schmuck ist aus den Kirchen entfernt, die Glocken sind verstummt. Keine große Zeremonie, sondern das Schweigen des durchbohrten Herzens. Joseph Ratzinger hat in seinen Drei Meditationen zum Karsamstag eindrücklich diese Einsamkeit nachempfunden: "Das erschreckende Geheimnis des Karsamstags, sein Abgrund an Schweigen, hat damit eine bedrängende Wirklichkeit in unserer Gegenwart erhalten. Denn dies ist Karsamstag: Tag der Verborgenheit Gottes, Tag jener ungeheuren Paradoxie, die wir im Glaubensbekenntnis aussprechen mit den Worten ›abgestiegen zu der Hölle‹, abgestiegen ins Mysterium des Todes hinein. Am Karfreitag konnten wir noch auf den Durchbohrten hinblicken – der Karsamstag ist leer, der schwere Stein des frischen Grabes bedeckt den Verstorbenen, alles ist vorüber, der Glaube scheint definitiv als Schwärmerei enthüllt. Kein Gott hat diesen Jesus gerettet, der sich Sohn Gottes nannte."

Viele Menschen erleben gerade jetzt ihren Karsamstag. Sie hadern, fragen auch nach Gott. Sie haben Angst und Furcht, können mit der dröhnenden Stille nicht umgehen, fühlen sich verlassen, zurückgelassen, einsam. Christlich betrachtet wird diese Stille durch das Osterjauchzen gebrochen, die Einsamkeit durch das gemeinschaftlichen Osterjubel verjagt. Doch wie wird es dieses Jahr sein?

Viele von uns spüren jetzt umso drastischer, was der Matthew Fforde, ein britischer Historiker und Autor, meint, wenn er in seinem gleichnamigen Buch vom "Zeitalter der Einsamkeit" spricht und feststellt: "In unserer postmodernen Gesellschaft werden dauerhafte Bindungen immer seltener, gehen spirituelle Werte mehr und mehr verloren." Dauerhafte Bindungen sind das, was es jetzt braucht – und umso schmerzlicher, wenn wir sie nicht haben.

In meinem Buch "Ich denke an Sie" schreibe ich über verschiedene "Einsamkeits-Situationen" und wie man damit umgeht, sowohl mit den eigenen, aber auch mit denen anderer. Wie viele Menschen liegen in ihren Krankenzimmern oder Hospizbetten und warten stundenlang darauf, dass ein Angehöriger, eine Freundin oder auch nur ein Bekannter die Tür öffnet, grüßt und durch die Monotonie der Krankheit hindurchlächelt? Wie viele sehnen sich nach kleinen Aufmerksamkeiten, nach einer Berührung? Krankenbesuche lassen erahnen, wie machtvoll ein Klopfen auf die Schulter, ein Streicheln über den Kopf sein kann, ganz zu schweigen von einer Umarmung oder einem Kuss. Die Einsamkeit zuckt unter der Berührung zurück, die physische Präsenz des anderen durchbricht die Glaskugel, die sich um einen herum gebildet hat. Wer einen anderen berührt, durchbricht sehr oft den Kokon der Einsamkeit, und sei es nur für einen Augenblick. Wo diese Besuche möglich sind, sollten wir sie gerade jetzt machen. Doch oft sind sie nicht möglich – was können wir dann gegen die Einsamkeit tun?

„Krankenbesuche lassen erahnen, wie machtvoll ein Klopfen auf die Schulter, ein Streicheln über den Kopf sein kann, ganz zu schweigen von einer Umarmung oder einem Kuss.“

—  Zitat: Notker Wolf

Ich werde immer wieder von Menschen angerufen, die mir sagen, ich sei heute der einzige, mit dem sie gesprochen hätten. Der einzige! Solche Gespräche und Telefonate sind gerade jetzt besonders wichtig. Rufen wir Menschen an, nehmen wir uns die Zeit, die wir jetzt ja auch haben, durchbrechen wir durch das Klingeln und unsere Stimme die Einsamkeit – und beugen vor, dass wir selbst nicht in Einsamkeit geraten. Mir fällt dazu eine Anekdote ein: Ich war damals sechs Jahre Erzabt von St . Ottilien und ein älterer Mitbruder klopfte an meiner Tür. Mit ernster Miene betrat er das Zimmer: "Ich muss Ihnen etwas sagen. Etwas stimmt nicht mehr in unserem Kloster." Ich ließ ihn Platz nehmen, und da kam es aus ihm heraus: "Wissen Sie, wenn man früher an Ihrem Zimmer vorbeikam, hörte man immer Musik. Am schönsten war es, wenn Sie selbst auf der Querflöte spielten. Jetzt herrscht Totenstille auf dem Gang." Diese Bemerkung hat mich sehr berührt: "Pater Alkuin, ich habe keine Zeit mehr." Da stand der hagere Mann mit seinen schlohweißen Haaren auf, legte mir die Hand auf die rechte Schulter und sagte: "Vater Erzabt, tun Sie es bitte wieder. Es bekommt unserer Gemeinschaft gut." Ich habe danach wieder begonnen, Musik zu spielen – die Stille, die jetzt in vielen Zimmern und Herzen herrscht, könnten wir auch so brechen, und sei es, indem wir uns bei einer Video-Übertragung eines Gottesdienstes oder eines Chorgebets mit betenden Menschen verbinden.

Es gibt aber auch Dinge, die man schreiben sollte, weil sie am Telefon nicht richtig ausgedrückt werden können. Wir können auch mit einem Brief oder einer Email zu jemanden durchdringen, ihm zeigen, dass er eben nicht einsam und allein ist. Solch ein Schreiben ist ein Zeichen, das bleibt, das man immer wieder ansehen und durchlesen kann, und das sagt: Ich denke an Dich!

Gott hat uns nicht vergessen

Ich glaube, dass diese einfache Botschaft "Ich denke an Sie" besonders machtvoll ist. Gerade jetzt, aber auch ganz generell. Zu wissen, dass jemand an mich denkt, hilft gegen oder in der Einsamkeit. Zu wissen, dass jemand für mich betet, trägt und gibt das Gefühl, nicht vergessen zu sein. Der Karsamstag löst sich an Ostern auf und wir Christen erkennen: Gott hat weder Jesus noch uns vergessen. Er hat uns nicht einsam und allein zurückgelassen, sondern ist zurückgekehrt. Diese Botschaft macht die Schrecken des Karfreitages und Stille des Karsamstages erträglich – und so müssen wir auch die Pandemie als Karsamstagserfahrung ertragen: im Wissen, dass diese Krise vorbeigehen wird und dass uns Gott, so schwer das angesichts des Leides so vieler auch fallen mag, nicht vergessen hat. Das Schweigen des Karsamstages wird im Osterjubel verklingen. 

Von Notker Wolf

Hinweis: "Ich denke an Sie. Die Kunst, einfach da zu sein" ist 2020 im Herder-Verlag erschienen. Der Band mit 160 Seiten kostet 16 Euro.