Kolumne: Mein Religionsunterricht

Was Religionsunterricht mit Zahnseide zu tun hat

Veröffentlicht am 24.04.2020 um 18:30 Uhr – Lesedauer: 

Eichstätt ‐ In Zeiten abnehmender Bedeutung kirchlicher Jugendarbeit sieht Religionslehrer Andreas Graf eine große Chance für den schulischen Religionsunterricht. Dieser müsse sich aber an die Religiosität von Jugendlichen anpassen.

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Wer glaubt, dass katholischer Religionsunterricht – wenn auch im übertragenen Sinn – nichts mit Zahnhygiene zu tun hat, der kann eines Besseren belehrt werden: Sieht man sich nämlich die Entwicklung der kirchlichen Jugendarbeit in Deutschland an, erkennt man schnell, dass die Berührungspunkte von Jugendlichen und Repräsentanten der Kirche zunehmend abnehmen. Religionslehrer können in diese Lücke stoßen und damit in Bereiche vordringen, in die kirchlicher Jugendarbeit der Zugang erschwert wird – Religionsunterricht eben als Zahnseide.

Doch der Reihe nach: Im Jahr 1982 war dem Kolpingwerk Deutschland noch zum Jubeln zumute, wiesen die Mitgliederzahlen der Kolpingjugend doch ein bis dahin unerreichtes Hoch von genau 81.036 Mitgliedern aus. Seither sind die Mitgliederzahlen leider rückläufig. Stellvertretend mit diesen Zahlen nimmt bedauerlicherweise auch das ab, was in der Nachkriegszeit behutsam und mit viel Engagement als Säulen kirchlicher Jugendarbeit aufgebaut wurde: Dazu zählen Jugendgottesdienste, Besinnungswochenenden, Zeltlager und wöchentliche Gruppenstunden. Vieles musste in den vergangenen Jahren nach und nach zurückgefahren werden, weil immer weniger Jugendliche kamen. Dabei war der Rückzug oftmals ein schleichender Prozess: Erst wurde die Gruppenstunde auf mehrere Jahrgangsstufen ausgedehnt, dann vom wöchentlichen auf den monatlichen Rhythmus ausgedehnt. Geblieben ist oft nur noch das österliche Kerzenbasteln.

Das Monopol wurde der Kirche streitig gemacht

Die Gründe freilich sind vielfältig: Viele andere Vereine boten nach und nach auch Freizeitaktivitäten an und machten der Kirche das langjährige Monopol streitig – und vielleicht ist das Zeltlager der örtlichen Jugend-Feuerwehr sogar beliebter, weil da der Löschkurs des Lagerfeuers gleich inklusive ist.

Doch bedauerlicherweise haben auch strukturelle Veränderungen in unserem gesellschaftlichen Leben vielen kirchlichen Aktivitäten die Luft zum Atmen genommen: Ein steigender schulischer Druck – so konstatieren es zumindest Schulpsychologen – und die vermehrte Verlagerung von Unterricht auf den Nachmittag etwa im Zusammenhang mit der Einführung von achtstufigen Gymnasien verengten und verengen die Zeitfenster von Jugendlichen und stellen zusätzliche Barrieren für eine nachhaltige religiöse außerfamiliäre Sozialisation dar. Ein Blick in so manchen Pfarrbrief offenbart, dass für Senioren mittlerweile deutlich mehr Angebote feilgeboten werden als für Jugendliche: Aber auch im kirchlichen Bereich gilt halt die ökonomische Maxime von Angebot und Nachfrage.

Eine Schülerin steht im Religionsunterricht an der Tafel.
Bild: ©KNA (Symbolbild)

Andreas Graf ist überzeugt: Religionslehrer können in Bereiche vorstoßen, in die kirchlicher Jugendarbeit der Zugang erschwert wird.

Auch die Berührungspunkte von Jugendlichen mit Priestern werden weniger: Zum einen muss man kein miesepetrig-gelaunter Statistikleser sein, wenn man behauptet, dass der Gottesdienstbesuch von Jugendlichen ständig abnimmt, zum anderen werden auch immer mehr Priester – mitunter gegen ihren Willen – aus dem schulischen Religionsunterricht abgezogen. Auch wenn mancher geweihte Religionslehrer, der im Lehrerkollegium oft eine wertvolle Sonderrolle einnimmt, nur zwei Klassen versorgt, so geht damit an vielen Schulen eine geistliche Identifikationsfigur verloren. Was für mich aber noch viel schlimmer wiegt: Beim Schulgottesdienst – bei objektiver Betrachtung für einige Schüler einer der wenigen Besuche einer Messe im gesamten Kalenderjahr - muss ein Priester von außen "importiert" werden, eine wenn auch nur kleine Vertrauensbasis kann sich hier nicht bilden. Schade!

Doch die genannten Umstände und die geschilderte Situation sollten nicht nur Anlass zum Lamentieren bieten, sondern offenbaren auch ein personell-strukturelles Vakuum, in das Religionslehrer mit all ihrer didaktischen Erfahrung stoßen können oder vielleicht sogar müssen. Wenn die Pastoralreferentin im Jugendhaus, die Gemeindereferentin vor Ort, der Kaplan beim Kommunionunterricht und der Ortsgeistliche beim Gottesdienst nicht mehr getroffen werden und somit als geistliche Kontaktperson ausfällt, dann kann und muss der Religionslehrer diese Lücke des Seel-Sorgers füllen. Er kommt dorthin, wo die kirchlichen Angestellten oft keinen Zugriff mehr haben – wie eine Zahnseide eben, die auch an schwer zugängliche Stellen kommt. Dies ist zwar aufgrund der Tatsache, dass der Religionsunterricht als einer der wenigen institutionalisierten Schnittstellen zwischen Staat und Kirche besteht, per se logisch, dennoch sollten sich die Religionslehrer dieser wichtigen Scharnierstelle und Brückenfunktion auch bewusst sein.

"Katholisches Fühlen" wieder ansprechen

Doch diese allmähliche Rollenveränderung bringt in der heutigen Zeit auch zahlreiche Herausforderungen mit sich: Glaubt man der aktuellen Shell-Jugendstudie, wird Gott den Jugendlichen immer unwichtiger. 41 Prozent der katholisch getauften (!) Jugendlichen stimmen dieser Aussage zu. Klar ist, dass sich das Rad der Säkularisierung – zumindest momentan – nicht zurückdrehen lässt. Vielmehr gilt es, die Jugendlichen in ihrer eigenen Religiosität anzunehmen und zu unterstützen. Wenn die moderne Religionspädagogik darauf verweist, dass sich die Religiosität von jungen Menschen von Inhalten, vor allem von Glaubenssätzen ablöst und damit auch von der hochbedeutsamen Wahrheitsfrage, ist das zunächst ein alarmierender Befund, der aber auch wahrnimmt, dass sich die Religiosität von Jugendlichen ändert. "Religiöses wird für sie dann wichtig, wenn es sinnlich erfahrbar ist, einen ästhetischen Reiz ausübt, Nützlichkeit und Genuss verheißt, das Gefühl anspricht", schreibt etwa der Religionspädagoge Ulrich Kropac. Die Ausrichtung auf eine Religion als Lebensgefühl, die damit auch den oft schwierigen dogmatischen Gedankengebäuden nicht mehr die Poleposition zuweist, beschreibt auch der italienische Religionsphilosoph Mario Perniola, der für das 21. Jahrhundert an die katholische Kirche appelliert, mehr auf die Dimension der Erfahrung zu setzen. Nicht umsonst heißt sein Buch "Vom katholischen Fühlen", in dem er schreibt: "Insofern neige ich doch eher dazu, den Wesenskern der Katholizität weniger im Glauben, als vielmehr im Fühlen [...] auszumachen."

Aufgabe und Ziel von Religionsunterricht muss es daher auch sein, dieses "katholische Fühlen" im Sinne Perniolas wieder mehr anzusprechen. Gerade auch in schulischen Lerngruppen, die hinsichtlich ihrer religiösen Sozialisation oft äußerst heterogen sind, kann das Augenmerk auf ein christliches Lebensgefühl sogar brückenbauende Funktion übernehmen: Ein Schüler muss meines Erachtens nicht zwingend wissen, in welcher Reihenfolge der Apostel Paulus seine Gemeinden gegründet hat, um Gott als Geheimnis und Lebensratgeber begreifen zu können. Gefühle verbinden schneller und einfacher als Wissen! Eine allumfassende – um damit einmal das Wort katholisch zu übersetzen – Spiritualität wäre gut kompatibel zur modernen Welt und würde dem jugendlichen Glauben vielleicht auch wieder mehr Frische geben. Denn Zahnseide gibt's auch mit Mintgeschmack!

Von Andreas Graf

Der Autor

Andreas Graf unterrichtet am Willibald-Gymnasium in Eichstätt (Oberbayern). Er ist dort Fachschaftsleiter für Katholische Religionslehre. Zudem ist er Vorsitzender des KRGB (Katholische Religionslehrerinnen und -lehrer an Gymnasien in Bayern) im Bistum Eichstätt.

Linktipp: Kolumne "Mein Religionsunterricht"

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