Ein Gastbeitrag von Alttestamentlerin Juliane Eckstein

Kinder in Krisenzeiten – bereits in der Bibel (k)ein Thema

Veröffentlicht am 17.05.2020 um 12:00 Uhr – Lesedauer: 

Frankfurt a. M. ‐ In der Corona-Krise werden die Bedürfnisse von Kindern und ihren Familien hinten angestellt. Die Alttestamentlerin Juliane Eckstein hat sich daher auf eine biblische Spurensuche begeben. Sie ist auf ambivalente Traditionen im Umgang mit Kindern gestoßen – in normalen und in Krisenzeiten.

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Während sich Deutschland aus dem Lockdown heraustastet, die Absperrbänder um Spielplätze eingeholt werden, Kinder staffelweise wieder in die Schule dürfen und einige Länder sogar die volle Wiederöffnung von Kitas beschließen, sitzt den Familien mit minderjährigen Kindern noch der Schock in den Knochen. Denn die Belange von Kindern und ihren Betreuungspersonen spielten noch nicht einmal dann eine Rolle, als Geschäfte für allerlei dringenden bis weniger dringenden Bedarf wieder öffnen durften und über Bundesligaspiele wie Spargelernte heiß diskutiert wurde.

Die "Erfindung der Kindheit"

Nun ist es aus historischer, anthropologischer und damit auch biblischer Sicht nicht überraschend, dass die Bedürfnisse von Kindern übergangen werden. In den Geistes- und Sozialwissenschaften spricht man von der "Erfindung der Kindheit" im 16./17., spätestens aber im 19. Jahrhundert. Erst mit dem Aufstieg der bürgerlichen Familie wurden Kinder als kleine Personen wahrgenommen, die Belehrung und Schutz benötigen. Vorher galten sie als zu kurz geratene Erwachsene. Sie hatten ihren Anteil zum Lebensunterhalt der Familie beizutragen, erfuhren darüber hinaus aber keine gesonderte Beachtung. Eine Kindheit als eigene Lebensphase gab es in der öffentlichen Wahrnehmung nicht.

Die biblischen Texte bestätigen über weite Strecken dieses Bild. Gleich zu Beginn unseres Kanons werden die Menschen zweimal geschaffen, aber immer als fertige Erwachsene (Gen 1–2). Wenn Kinder vorkommen, werden sie geboren, spielen eventuell noch als Säuglinge eine Rolle und tauchen erst als Erwachsene, oder zumindest als ältere Jugendliche, wieder auf. So verhält es sich beispielsweise mit den zwölf Söhnen und der einen Tochter von Jakob, Rachel, Lea, Bilha und Silpa (Gen 29–37).

Damit zeigt sich: Kinder zählen vor allem in Hinblick auf ihre Funktion als spätere Erwachsene. Als solche sind sie für ihre Eltern unentbehrlich, besonders die Söhne, wie zahlreiche Sohnesverheißungen an Abram (Gen 15,4) bis Maria (Lk 1,26-38) beweisen. Denn im altorientalischen Kontext stellen sie eine lebende Renten- und Rechtsversicherung dar (Ex 20,12; Ps 127,5). Auch für die militärische Verteidigung werden sie gebraucht (Ps 127,4). Solange sie sich allerdings noch im Kindesalter befinden, werden nur wenige Personen für das Gemeinwesen relevant. Dazu zählen vor allem Thronfolger, die minderjährig zu Königen werden, wie Joschija als Achtjähriger (2 Kön 22,1).

Alttestamentlerin Juliane Eckstein
Bild: ©LMU München

Juliane Eckstein ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Einleitung in die Heilige Schrift und Exegese des Alten Testaments der Philosophisch-Theologische Hochschule Sankt Georgen.

Eine Episode wert ist die Kindheit einer Person außerdem, wenn sie später eine außergewöhnliche Herrschaft ausüben wird oder wenn aus ihrem erwachsenen Mund bemerkenswerte Prophetien überliefert sind. Zu erwähnen wären hier Samuel (1 Sam 3), Mose und eventuell Mirjam (Ex 2,5–10) oder der messianische Friedensherrscher im Jesajabuch (Jes 7,14–16). In dieses Muster fügen sich auch die Evangelien ein, wenn sie von Jesus erzählen. Sowohl bei Markus als auch bei Johannes tritt Jesus nur als Erwachsener auf. Matthäus bietet immerhin die Erzählungen rund um Jesu Geburt (Mt 1–2). Lediglich das Lukasevangelium enthält die Erzählung des ungewöhnlichen Kindes Jesus im Tempel (Lk 2,41–52).

Die Vernachlässigung von Kindern – zwei Seiten einer Medaille

Nun ist dieses "Kinder-Schweigen" nicht grundsätzlich problematisch. Es entspricht einem Umgang mit Kindern, den der US-amerikanische Anthropologe David Lancy "benign neglect" (wohlwollende Vernachlässigung) nennt. Schaut man in die Geschichte und in andere Länder, so stellt sich diese Art der Kindererziehung als der Normalfall dar. Ihr Kennzeichen sind frei herumlaufende Kindergruppen, die einige Leser und Leserinnen noch aus ihrer eigenen Kindheit kennen werden (vgl. Sach 8,5). In solchen Gruppen lernen Kinder verschiedenen Alters voneinander, ohne Anleitung einer erwachsenen Person. Sie entdecken ihre Umwelt autonom, um so ihre Fähigkeiten zu erproben und zu erweitern. In die Welt der Großen wachsen die Kinder hauptsächlich durch Nachahmung hinein, und zwar in ihrem eigenen Tempo (vgl. Mt 11,16–17).

Dieser wohlwollend nachlässige Blick auf Kinder hat aber auch eine Kehrseite, die in den biblischen Texten zum Tragen kommt. Die verschiedenen Lebensalter eines Kindes werden nicht als wertvolle Phasen in sich wahrgenommen. Stattdessen wird immer nur festgestellt, was den Kindern im Gegensatz zu den "fertigen" Erwachsenen noch fehlt. Offensichtlich ist ihre geringe Körpergröße, weswegen sie in antiken Bildzeugnissen stets als verkleinerte Erwachsene dargestellt sind. Noch gravierender ist aber, dass sie unvernünftig sind (Jer 4,22) und noch keinen moralischen Kompass haben (Dtn 1,39). Eine ähnliche Sicht begegnet uns auch heute in Bezug auf Corona, wenn Kinder in erster Linie als Defizitwesen wahrgenommen werden. Kinder gelten als Virenschleudern, die keine Masken auf dem Gesicht behalten und nicht genügend Abstand halten können. Damit sind sie eine Gefährdung für die Erwachsenen ihrer Umgebung, bleiben aber von der Krankheit selbst verschont. Was wiederum die Gefahr verschärft.

Die Kindheit in der Krise

In dieser Krisenzeit, welche die Corona-Epidemie zweifelsohne darstellt, bekommen Kinder und ihre Familien somit das Schlechteste aus beiden Welten ab. Auf der einen Seite steht ein politisches Handeln, das Kinder höchstens von dem aus beurteilt, was sie nicht können, und ihre Bedürfnisse weitgehend ignoriert. Dieser Vernachlässigung stehen aber andererseits keine entsprechenden Freiräume gegenüber. Eltern dürfen ihre Kinder nicht einfach vor die Tür schicken in der Erwartung, dass sie abends wieder nach Hause kommen. Ganz im Gegenteil, Kinder sollen möglichst im Haus oder  – wenn überhaupt vorhanden – im Garten bleiben, keinen Kontakt zu Gleichaltrigen haben und überdies den schulischen Anschluss nicht verlieren. Die Folge war und ist eine Überlastung und Überforderung der Familien.

Jesus segnet und umarmt sechs Kinder.
Bild: ©14ktgold/Fotolia.com

"Lasset die Kinder zu mir kommen": Jesus Christus nannte Kinder immer wieder als Vorbild und warnte davor, sie zu verachten.

Nun lässt sich direkt aus den biblischen Texten natürlich kein richtiger Umgang mit Corona ableiten. Das ist schon deswegen nicht möglich, weil in der Antike Viren und Bakterien ebenso wenig bekannt waren wie ihre Übertragungswege. Trotzdem war man mit Krankheiten und Seuchen sehr wohl vertraut. Interessanterweise werden diese in biblischen Texten oft im Zusammenhang mit kriegerischen Begriffen genannt. So wird im Jeremiabuch mehrfach und formelhaft wiederholt, die Menschen drohten, "durch Schwert, Hunger und Seuche" umzukommen (z. B: 24,10). Über diesen Zusammenhang geben die biblischen Texte zumindest einen Fingerzeig, denn auch im Zusammenhang mit SARS-CoV-2 sind bereits kriegerische Wendungen aufgefallen. Wenn wir "den Kampf gegen das Virus aufnehmen" wollen, "das Virus ausgemerzt" gehört, in manchen Ländern Feldlazarette errichtet werden oder der Ausnahmezustand verhängt wird, dann wird sprachlich und performativ der Kriegszustand aktiviert.

Option für die Kleinsten

Ein Kriegszustand aber ist für Kinder niemals eine gute Nachricht. Das sehen die biblischen Texte auffällig klar. In Kriegszeiten droht Kindern Hunger (Klgl 4,4), schwere Kinderarbeit (Klgl 5,13), die Schuldsklaverei (Dtn 1,39) oder der Tod (Jer 9,20). Die Feinde werden als ein Volk charakterisiert, das mit Kindern kein Mitleid zeigt (Bar 4,15). Dabei werden übrigens die ältesten und die jüngsten Mitmenschen oft zusammengedacht und nicht gegeneinander ausgespielt (z. B. Dtn 28,50). Die biblischen Autoren und Autorinnen sind sich vollkommen darüber im Klaren, dass Kinder und Alte die schwächsten Glieder der Gesellschaft sind und in der Krise am meisten leiden. Vor diesem Hintergrund erscheinen die Mahnungen der Propheten in einem neuen Licht, wenn sie ihre Könige auffordern, in bedrohlichen Kriegssituationen militärische Manöver zu unterlassen (Jes 7,1–16) oder zu kapitulieren (Jer 38,14–23).

Diese Linie biblischen Denkens wird an vielen Stellen weitergeführt. In den endzeitlichen Texten des Jesajabuchs wird betont, dass in der großen Heilszeit Kinder selbstverständlich in die Mitte der Gesellschaft gehören (Jes 49,22–23). In mehreren Prophetentexten wird die Beziehung zwischen Kindern und ihren Sorgepersonen geadelt, indem Gottes Zuwendung mit der Art und Weise verglichen wird, wie sich liebevolle Menschen um Kinder sorgen (Hos 11,4). Es ist diese Tendenz im Alten Testament, die Jesus aufgreift, wenn er ein Kind in die Mitte stellt (Mt 18,1–6). Kinder sind für ihn weder Störenfriede noch Virenschleudern, sondern diejenigen, bei denen das Reich Gottes zu finden ist. Jesus fordert seine Hörer und Hörerinnen auf, die Welt mit den Augen eines Kindes zu sehen. Denn woran Kinder leiden, daran leiden viele. Und was Kindern gut tut, hilft auch anderen, vor allem den Übersehenen hier und weltweit. Auch in Zeiten von Corona.

Von Juliane Eckstein

Die Autorin

Juliane Eckstein ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Einleitung in die Heilige Schrift und Exegese des Alten Testaments der Philosophisch-Theologische Hochschule Sankt Georgen. Ihr Text ist im Rahmen des Projektes "Corona-Perspektiven" der Jungen AGENDA, einem Zusammenschluss junger katholischer Theologinnen, entstanden. Die jeweiligen Autorinnen beleuchten ihre Perspektiven auf die aktuelle Situation im Hinblick auf verschiedene, weniger sichtbare gesellschaftliche Gruppen.