Interview mit Professor Jochen Sautermeister

Wer studiert eigentlich Theologie – und wozu?

Veröffentlicht am 27.05.2020 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Bonn ‐ Bibel lesen, Dogmen auswendig lernen – ist so das Theologiestudium? Nein, sagt der Bonner Moraltheologe Jochen Sautermeister. Der Dekan der Theologischen Fakultät wirbt um Studieninteressierte, die sich nicht mit einfachen Antworten zufrieden geben.

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Fachkräftemangel gibt es auch in der Kirche – und auch langfristig droht der Nachwuchs auszubleiben: Die Zahl der Theologiestudierenden geht zurück. In den letzten zwanzig Jahren um zwanzig Prozent. Wie können die Fakultäten dem entgegensteuern? An der Universität Bonn versucht man es nun mit einer Werbekampagne und Informationsveranstaltungen per Videokonferenz für studieninteressierte Abiturienten. Der Dekan der katholisch-theologischen Fakultät, der Moraltheologe Jochen Sautermeister, erzählt im katholisch.de-Interview über neue Zielgruppen – und warum es sich lohnt, Theologie zu studieren.

Frage: Herr Sautermeister, wer studiert eigentlich heute Theologie?

Sautermeister: Ich habe den Eindruck, dass es eine heterogene Gruppe ist. Die typischen Theologiestudierenden gibt es nicht. Auf der einen Seite gibt es Studierende, die noch ganz klassisch kirchlich sozialisiert sind, in Familie, Gemeinde, Jugendarbeit oder Verbänden. Der Weg ins Theologiestudium ergibt sich organisch aus diesen Erfahrungen und Begegnungen. Daneben gibt es auch Studierende, die erst in ihrer Jugend oder später intensiv mit dem christlichen Glauben in Berührung gekommen sind, ohne auf eine klassische religiöse oder kirchliche Sozialisation bauen zu können. Für diese stellen sich Fragen nach ihrer christlichen Identität noch einmal anders. Ferner gibt es diejenigen, die Theologie studieren, weil sie sich mit existenziellen Fragen, die mit Werten, Sinn, Kultur und sozialer Verantwortung zu tun haben, intellektuell beschäftigen möchten. Und natürlich die große Gruppe an Studierenden, die katholische Religion an der Schule unterrichten möchten, um mit jungen Menschen über den Glauben ins Gespräch zu kommen und seine Bedeutung für das Leben zu erschließen.

Frage: Das macht die Lehre dann sicher auch anspruchsvoller.

Sautermeister: Ja, anspruchsvoller, herausfordernder und spannender. Die individuellen Interessen und Voraussetzungen hinsichtlich der christlichen Grundlagen, familiären und biografischen Hintergründe, kirchlicher Sozialisation und des gelebten Glauben sowie religiös-spiritueller Erfahrungen sind zum Teil sehr unterschiedlich.

Moraltheologe Jochen Sautermeister
Bild: ©Uni Bonn (Archivbild)

Jochen Sautermeister ist Inhaber der Lehrstuhls für Moraltheologie und Dekan der Katholisch-Theologischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.

Frage: Wie viel gelebten Glauben braucht denn ein Theologiestudium? Muss man dafür "fromm" sein?

Sautermeister: Die Frage ist, was "fromm sein" und "gelebter Glauben" konkret bedeuten. Auch hier lassen sich Unterschiede beobachten. Manche sind stärker verbandlich oder christlich-sozial engagiert, andere stärker in Gemeinde oder Jugendarbeit und andere in geistlichen Gemeinschaften mit einem bestimmten religiös-spirituellen Profil. Meines Erachtens sollte das Theologiestudium eine grundsätzliche Offenheit für die Fragen und Inhalte voraussetzen, mit denen man sich dort beschäftigt. Theologie ist nicht einfach nur eine Religionswissenschaft, die objektiv und neutral auf religiöse Praktiken und Traditionen schaut. Dort betrachtet man Religion lediglich aus der Außenperspektive. Dagegen nimmt die Theologie auch eine Innenperspektive ein. Das heißt: Sie reflektiert auf christliche Glaubenspraktiken, Glaubenserfahrungen und Traditionen auch aus einem grundsätzlichen Einverständnis heraus. In klassischer Terminologie würde man sagen: Theologie ist Glaubenswissenschaft, Offenbarungswissenschaft und kirchliche Wissenschaft. Als wissenschaftliche Disziplin im Haus der Universität lässt sich dies weiterdenken und sagen: Theologie ist Sinnwissenschaft, Kulturwissenschaft, Erfahrungswissenschaft und Orientierungswissenschaft im Horizont des christlichen Glaubens. Wer Theologie studiert, sollte also die Bereitschaft mitbringen, sich intellektuell und existentiell von der Gottesfrage und dem Glauben an Leben, Sterben, Tod und Auferstehung Jesu berühren zu lassen. Sich auf das denkerische Abenteuer der Theologie einzulassen, ist auch für das Wachsen und Reifen im Glauben eine Chance.

Frage: Hat sich die Sozialisation seit Ihrer eigenen Studienzeit verändert? Sind die Fakultäten pluraler geworden?

Sautermeister: Ich selbst war vor 20 Jahren in der Endphase meines Studiums. Da war manches anders: Wir waren mehr Theologiestudierende mit einer religiös-kirchlichen Sozialisation; Theologie war noch viel selbstverständlicher ein wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Gesprächspartner als heute. Um die Jahrtausendwende waren die Entwicklung der Globalisierung und Digitalisierung noch nicht so weit fortgeschritten, auch der Klimawandel wurde noch nicht ganz so ernstgenommen. Die Lebenswelt war noch etwas überschaubarer als heute.

Frage: Wie zum Beispiel?

Sautermeister: Neben Entwicklungen wie den Social Media oder Big Data war auch die (welt-)politische Lage anders. Mit dem 11. September 2001 hat der religiöse Fundamentalismus und die politische Instrumentalisierung von Religion eine ganz andere Sichtbarkeit und Dynamik erhalten. Religionen können Ressourcen für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung sein; sie können aber auch Quelle von Gewalt und Unterdrückung sein. Darüber muss Theologie kritisch nachdenken. Und deswegen hat sie auch einen unverzichtbaren Platz an der Universität. Zudem sind die religiösen Stimmen in der Öffentlichkeit pluraler geworden; und es bedarf der Kompetenz, religiöse Sprache, Bilder, Praktiken und Riten zu deuten. Diese Entwicklungen und noch andere mehr haben Auswirkungen auf die Kirche und Religionen. Und sie beschäftigen die Studierenden: Warum studiere ich Theologie, warum engagiere ich mich in der Kirche? Das ist nicht mehr so selbstverständlich wie vor 20 Jahren.

Bild aus der Kampagne zum Theologie-Studium der Uni Bonn
Bild aus der Kampagne zum Theologie-Studium der Uni Bonn: "Weil die Gesellschaft von morgen begeisterte von heute braucht"
Bild aus der Kampagne zum Theologie-Studium der Uni Bonn: "Weil Werte systemrelevant sind"
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Frage: Wie reagiert dann die akademische Lehre auf solche Veränderungen?

Sautermeister: Wir müssen zum einen die heterogenen Voraussetzungen der Studierenden beachten, um eine gemeinsame Basis für das Studium zu legen. Das betrifft etwa das Wissen über biblische Texte oder kirchlich-religiöse Praktiken. Zum anderen sind die Inhalte des Theologiestudiums so zu erschließen, dass sie in ihrem jeweiligen Problemkontext und Fragehorizont in ihrer eigenen Rationalität nachvollziehbar werden. So können theologische Themen in ihrer Geschichtlichkeit erfasst und als Anliegen eines im Denken verantworteten Glaubens vermittelt werden. Ich bin davon überzeugt, dass die Theologie neben ihrer Funktion für die Ausbildung kirchlicher Berufe so auch gesellschaftliche Bedeutung und persönliche Lebensrelevanz hat bzw. gewinnen kann.

Frage: Also auch ein persönlicher Zugang zum Fach?

Sautermeister: Es geht auch darum, Glaubensinhalte und Traditionen nicht nur zu kennen, sondern den christlichen Glauben mit Erfahrungen zu verbinden und diese deuten zu können. Der Wunsch nach einer "Authentifizierung" des eigenen Glaubens im Theologiestudium ist für viele stark ausgeprägt. Zugleich haben andere den starken Wunsch, eindeutige und objektive Sicherheit im Glauben zu finden: Was ist richtig zu glauben, was falsch? Vor diesem Hintergrund ist es im Theologiestudium wichtig, sich mit der Vielgestaltigkeit des christlichen Glaubens und der kirchlichen Tradition zu beschäftigen und zu lernen, mit Ambiguitäten besser umgehen zu können und sich in seiner Identität zu bilden.

Frage: Mit Pluralität müssen nicht nur Theologiestudierende umgehen. Wird diese Kompetenz der Theologie auch über Ihre Fakultät hinaus von Studierenden angenommen?

Sautermeister: Ja, an unserer Exzellenzuniversität in Bonn bestehen viele Möglichkeiten und Angebote der Kooperation und des Austauschs. Gerade bei Veranstaltungen zu theologisch-ethischen Themen nehmen immer wieder Studierende anderer Fakultäten teil, aber es gibt auch Interesse an geistesgeschichtlichen, historischen und kulturellen Themen, an Fragen der religiösen Weltdeutung, die in der Theologie behandelt werden. Hier sind etwa die Kirchengeschichte, die Liturgiewissenschaft, die praktische Theologie oder die biblischen Fächer gefragt.

Informationsveranstaltung für Schülerinnen und Schüler zum Theologiestudium in Bonn

Was das Theologiestudium ausmacht und was man damit machen kannt, erfahren interessierte Schülerinnen und Schüler Mittwoch, 27. Mai von 11–13 Uhr. In einer Videokonferenz stellt sich die katholische Theologie der Uni Bonn vor: Welche Inhalte gibt es? Welche Berufe kann man mit Theologie ergreifen? Dabei sind Lehrende, Studierende und Theologinnen und Theologen aus verschiedenen Berufen. Die Veranstaltung wird von der theologischen Fakultät zusammen mit dem Mentorat, der Studienbegleitung für Theologiestudierende, angeboten.

Frage: Ihre Bonner Fakultät wirbt nun um Studieninteressierte mit Slogans, bei denen es um Werte geht, um Bildung, Begeisterung und Kreativität. Explizit christliche Fragen zum Sinn des Lebens, zur Erlösung, zur Bibel kommen da nicht vor. Warum?

Sautermeister: Manchen ist gar nicht bewusst, dass sie sich mit Fragen beschäftigen, die auch theologische und religiöse Fragen sind. Mit unseren Slogans wollen wir eine Brücke schlagen und genau dafür sensibilisieren. Wir wollen junge Menschen erreichen, die sich mit Werten auseinandersetzen; die etwas Sinnvolles machen wollen und die gesellschaftlich oder kirchlich mitgestalten möchten; die die Fragen nach dem Lebensganzen, Sinn und Verantwortung innerlich umtreiben; oder die sich fragen, wie man mit Pluralität, Ambivalenzen und Unsicherheiten konstruktiv umgehen kann, und sie sich mit simplen Antworten nicht zufrieden geben wollen. Die Slogans wollen ausdrücken, dass Theologie viel breiter ist, als man auf den ersten Blick vermuten könnte. Es geht um das Leben in seiner ganzen Breite, Höhe und Tiefe im Horizont des christlichen Gottesglaubens.

Frage: Theologie scheint immer noch primär auf den kirchlichen Dienst oder das Lehramt vorzubereiten. Wer sich nun mit einem so breiten, allgemeinen Interesse für das Studium interessiert, aber nicht unbedingt diese klassischen Berufswege anstrebt: Kann man denen guten Gewissens dieses Studium empfehlen?

Sautermeister: Ich denke schon! Denn im Theologiestudium kann man vieles lernen, was auch außerhalb der Kirche gefragt und erforderlich ist. Ein paar Berufsfelder, in denen Absolventinnen und Absolventen unserer Fakultät heute tätig sind: Journalismus, Medienbranche, Kulturbetrieb, Stiftungen, Verwaltung, Politik, Wissenschaftsorganisationen, Verbände; aber auch in Coaching und Beratung, Personalentwicklung und Unternehmensberatungen sind Theologinnen und Theologen gefragt. Im Theologiestudium lernt man neben einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Glaubensgut vor allem kommunikative Kompetenz und Sprachfähigkeit da zu gewinnen, wenn es anderen die Sprache verschlägt, bei existenziellen Themen, etwa wenn es um Freude, Hoffnung, Sinn und Gott geht, oder bei Schuld und Scheitern, Versöhnung und Neuanfang, oder bei Angst, Sterben und Tod. Theologie hilft auch beim Verstehen gesellschaftlicher und kulturellen Prozesse, bei der Reflexion ethischer Fragen wie Menschenwürde oder ökologisch-sozialer Gerechtigkeit. Dabei hat Theologie immer eine konstruktive und eine kritische Funktion, indem sie unangemessene Verkürzungen religiösen Sprechens und inhumaner Praktiken entlarvt. Theologie ist kritisch gegenüber religiöser Beliebigkeit und Belanglosigkeit auf der einen sowie gegenüber fundamentalistischen oder diskriminierenden Verengungen auf der anderen Seite. Im Theologiestudium kann man lernen, konstruktiv mit unterschiedlichen Sichtweisen umzugehen und verschiedene Methoden anzuwenden. Es fördert neben Reflexionskompetenz auch Empathiefähigkeit, Ambiguitätstoleranz, die Bereitschaft, sich produktiv irritieren zu lassen, und die Fähigkeit, über seine eigene Identität nachzudenken und sich der größeren Zusammenhänge, in die man eingebettet ist, bewusst zu werden. Für alle, die in Gesellschaft, Schule oder Kirche tätig sein und Verantwortung übernehmen wollen, sind diese Fähigkeiten wichtig.

Frage: Mit diesen Kompetenzen wären Theologen doch gerade jetzt die idealen Experten, um zu erklären, warum wir auf der Straße Menschen sehen, die dagegen demonstrieren, dass Bill Gates im Auftrag einer Neuen Weltordnung sie mit einem Chip impft. Was trägt die Theologie hier bei?

Sautermeister: Verschwörungserzählungen sind der Versuch, in einer beängstigenden Situation mit Elementen von Halbwissen die Wirklichkeit unangemessen zu vereinfachen, um vermeintlich sicheren Boden unter den Füßen zu haben. Dazu zählt auch die Konstruktion von Feindbildern, um das Fremde, Ängstigende, Irritierende abzuspalten und scheinbar loszuwerden. Die Theologie kann die Unsicherheit, die diese Bedürfnisse auslöst, zwar nicht beseitigen. Aber sie kann auf diese Dynamiken hinweisen und dabei helfen, den Umgang mit existenzieller Unsicherheit und das Leben mit Uneindeutigkeiten auszuhalten und zu gestalten, indem sie Hoffnung vermittelt und dazu ermutigt, sich der Wirklichkeit zu stellen, so wie sie ist – eben weil sie letztlich auf ein Gehalten-Sein in Gott baut.

Von Felix Neumann

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