Koch: Leistung von Familien während Corona ist nicht genug zu würdigen
In der Deutschen Bischofskonferenz leitet Heiner Koch die Kommission für Ehe und Familie. Der Berliner Erzbischof ist tief beeindruckt, wie Familien die Herausforderungen und Belastungen der Corona-Krise gemeistert haben. Deshalb plädiert er für nachhaltige staatliche Hilfen und neue kirchliche Initiativen für Familien.
Frage: Herr Erzbischof, die Familien hatten in den vergangenen Monaten während der Corona-Krise besonders viele Herausforderungen zu bewältigen: Homeoffice, Homeschooling, viele nur mit Kurzarbeitergeld und auf beengtem Raum. Hat die Politik die Familien ausreichend im Blick gehabt?
Koch: Was Familien in diesen Monaten alles schultern mussten, wurde erst nach und nach bewusst, auch der Politik. Neben den tatsächlichen Bedrohungen und den sehr plötzlichen Einschränkungen muss man anerkennen, dass die Zeit für die Eltern auch angstbesetzt war. Zu der Sorge für die Kinder und um die Gesundheit der Großeltern-Generation kamen weitere existenzielle Befürchtungen wie die Sorge, möglicherweise den Arbeitsplatz zu verlieren. Nicht einfach für die familiäre Situation war es auch, dass lange unklar war, wann es erste Lockerungen geben könnte und wie lange Kitas und Schulen geschlossen bleiben. Ich bin beeindruckt, wie gut Familien all das gemeistert haben, das kann man gar nicht genug würdigen.
Frage: Gibt es genügend finanzielle Hilfen?
Koch: Die Familien profitieren von der Reduzierung der Mehrwertsteuer oder vom Kinderbonus, sicher. Diese Hilfen sind aber nur temporär, sie helfen akut, aber nicht langfristig. Das löst etwa nicht die Probleme der Familien, die nicht auf Rücklagen zurückgreifen können. Aus meiner Sicht ist es ein Ungleichgewicht, dass der Staat beim Kauf eines Elektroautos 5.000 Euro dazu schießt, um die Wirtschaft zu stärken, der Kinderbonus aber gerade mal 300 Euro beträgt und in erster Linie den Konsum ankurbeln soll und nicht langfristig Familien hilft.
Frage: Der Essener Bischof Franz-Josef Overbeck hat sich dagegen gewandt, Familien, die etwa in beengten Wohnungen leben müssen, als Ort der Geborgenheit zu idealisieren. Wie sehen Sie das?
Koch: Das sehe ich genauso. Natürlich ist die Familie ein emotional grundlegender Ort, er wird aber zur Belastung, wenn man zu eng und zu lang aufeinandersitzen muss. Von Mitarbeiterinnen der Caritas weiß ich, dass die Gewaltbereitschaft in Familien gestiegen ist, weil ohne Kita und Freunde, ohne Spielplätze und Freunde die Tagesstruktur weggebrochen ist, selbst feste Zeiten für Mahlzeiten – wie im Schulhort – sind weggefallen.
Auffällig ist, dass ich aus unseren fremdsprachigen Gemeinden häufig andere Rückmeldungen bekomme. Dort scheinen die Familien deutlich leichter mit der Situation klargekommen zu sein, vielleicht auch, weil der Wert der Familie dort höher gehalten wird. Vielleicht kann es eine Aufgabe für die Zukunft sein, mehr darüber nachzudenken, wie wir die Familienzeit leben, wenn Kino, Zoo und andere Aktivitäten außerhalb der eigenen vier Wände nicht möglich sind.
Frage: Im Zusammenhang mit der Corona-Krise wird mit Blick auf die Gleichberechtigung oft von einem Roll-Back gesprochen: Frauen seien wieder in alte Muster zurückgedrängt worden und hätten neben dem Homeoffice auch Kindererziehung und Homeschooling organisieren müssen...
Koch: Das wäre sehr schlimm. Ich glaube aber, dass das eher dort passiert ist, wo es auch vor der Krise schon ein Ungleichgewicht in der Aufteilung der gemeinsamen Aufgaben gab. Corona hat ungeklärte Rollen und familiäre Probleme aufgedeckt. Ich plädiere nachdrücklich für die Freiheit der Eltern, ihre beruflichen und familiären Aufgaben eigenverantwortlich zu verteilen. Da gibt es heute viel gesellschaftlichen Druck, familiäre Arbeit geringer zu bewerten und schwächer finanziell zu unterstützen. Das sieht das Grundgesetz anders.
Frage: Haben die Kirchen die Familien genügend unterstützt?
Koch: Viele unserer Angebote für Familien sind auch weggebrochen: Kinderkatechse, gemeinsame Gottesdienste, die gesamte Erstkommunion- und Firmvorbereitung, die Religiösen Kinderwochen, das Miteinander in unseren katholischen Kitas und Schulen. Vieles konnte online gemacht werden, aber das ersetzt auf Dauer natürlich nicht die Begegnungen von Angesicht zu Angesicht, das Gefühl, die Kirchengemeinde als Heimat zu erfahren.
Mit Blick auf die Familienbildung habe ich gelernt, dass wir sehr viel mehr tun und uns fragen müssen, wie wir Eltern befähigen, ihre Kinder religiös stärker zu begleiten. Das ist mir gerade an Ostern schmerzlich bewusst geworden: Zu Weihnachten gibt es viele Rituale, die auch zuhause gelebt werden: das gemeinsame Adventssingen, das Versammeln um den Adventskranz. Vergleichbare Traditionen gibt es zu für die Fastenzeit und die Kar- und Ostertage nicht. Hier müssen wir uns definitiv mehr Gedanken machen, hier können wir aber auch viel von den Erfahrungen in den Familien lernen. Der Corona-Ausbruch hat uns völlig unvorbereitet erwischt, wir werden jetzt überlegen, wie wir auf eine mögliche zweite Welle und einen erneuten Lockdown reagieren. Das fängt bei Masken und Schutzanzügen an und geht über Vernetzungsangebote – auch über kirchliche Grenzen hinweg – weit hinaus.
Frage: Wie haben Sie selbst die vergangenen Wochen und Monate erlebt?
Koch: Persönlichen Kontakte haben mir sehr gefehlt, ich habe sehr darunter gelitten, Gottesdienste vor leeren Bänken zu feiern. Ich musste mich erst daran gewöhnen, bei den Online-Übertragungen der Gottesdienste nicht wie sonst die Gemeinde, sondern eine Kameralinse in den Blick zu nehmen. Was mir geholfen hat, waren die vielen positiven Rückmeldungen, die mich erreicht haben: Briefe und Mails aber auch kleine Videos und sogar selbst gemalte Bilder: Die Medien haben auch wirkliche kirchliche Gemeinschaft vermittelt.
Ein Freund von Online-Konferenzen bin ich nicht geworden, ich empfinde das als sehr anstrengend. Einziger Vorteil: Sie sind extrem ergebnisorientiert und dauern daher bei weitem nicht so lange. Daher überlege ich doch, welche Konferenzen und Diskussionen auch künftig digital sinnvoll sein können.