"Ein Papst mitten im Volk"
Frage: Herr Boff, Sie werden im Dezember 75 Jahre alt. Sind Sie enttäuscht dass der Ruf der Armen erst so spät – nämlich unter dem neuen Papst Franziskus – im Vatikan erhört worden ist?
Boff: Ich finde es schade, dass die Armen während der Amtszeiten der vergangenen beiden Päpste keine zentrale Rolle gespielt haben. Johannes Paul II. und Benedikt XVI. waren viel mehr um die Erneuerung der Kirche im Inneren als um die Leidenden besorgt. Deswegen hat die Kirche an Glaubwürdigkeit verloren. Mit dem jetzigen Papst Franziskus habe ich die Hoffnung, dass die Kirche auf der Seite der Leidenden stehen wird.
Frage: Sie sagten kürzlich in einem Interview, Papst Franziskus sei ein Papst der Zäsur. Wie wird er die Kirche und insbesondere die römische Kurie verändern?
Boff: Ich glaube, dass Franziskus das Papsttum schon jetzt reformiert hat: Er wohnt nicht im Apostolischen Palast wie ein Fürst oder ein Monarch. Er versteht sich als Bruder unter den anderen, lebt einfach und schlicht. Dies alles hat er wunderbar bei seinem Besuch des Weltjugendtags in Brasilien gezeigt. Er mischte sich unter das Volk, wollte es berühren und selbst berührt werden. Diese Einfachheit als Grundhaltung des Papstes wird große Auswirkungen auf die Kurie und die Kirchenhierarchie haben. Ich vermute sogar, dass viele Bischöfe in eine Krise geraten werden, weil sie nun selbst viel einfacher leben und mehr Nähe zum Volk zeigen müssen.
Frage: Sie sagten, er wird die römische Kurie reformieren. Wo sehen Sie persönlich den dringendsten Handlungsbedarf?
Boff: Besonders wichtig wäre es, die Kurie zu dezentralisieren. Die Kongregation für die Evangelisierung der Völker könnte zum Beispiel in Asien sitzen, der Päpstliche Rat für Gerechtigkeit und Frieden in Lateinamerika und der Päpstliche Rat zur Förderung der Einheit der Christen in Genf. Mit den heutigen elektronischen Kommunikationsmitteln könnte man direkte Verbindungen zwischen den einzelnen Ämtern der Kurie herstellen, so dass die Kirche tatsächlich eine Weltkirche würde. Auf diese Weise würde verhindert, dass sich innerhalb der Kurie ein Gegenpol zum Papst formiert. Gleichzeitig könnte der Papst beginnen, die Kirche nicht mehr monarchisch, sondern kollegial mit anderen Kardinälen zusammen zu leiten.
Frage: Welchen Einfluss hat der neue Papst auf die Kirche in Lateinamerika?
Boff: Nur 24 Prozent der Katholiken weltweit leben in Europa. 62 Prozent kommen aus Amerika und die anderen aus Afrika und Asien. So gesehen ist das Christentum eine Dritte-Welt-Kirche. Das hat auch schon der bedeutende Theologe Johann Baptist Metz gesagt. Jetzt, wo wir einen Papst haben, der selbst aus diesen Peripherien kommt, sind die Kirchen in Lateinamerika, Afrika und Asien keine Spiegelkirchen der europäischen Kirche mehr, sondern Quellenkirchen. Sie haben ihre eigene Geschichte, eigene Heilige und Märtyrer und eine eigene Theologie. Für mich steht der neue Papst Franziskus für eine neue Familie von Päpsten, die aus der Dritten Welt kommen und die Kirche erneuern werden. Bis heute ist die Kirche eine westliche Kirche. Doch sie muss eine Weltkirche sein, die ihre Wurzeln in verschiedenen Kulturen hat. An diesem Punkt sind wir zwar noch nicht, doch Papst Franziskus hat die Tendenz, eine solche Richtung der Kirche zu unterstützen.
Frage: Obwohl ja der Großteil der Katholiken aus Lateinamerika kommt, haben dort viele Gläubige der katholischen Kirche den Rücken gekehrt und sich neuen religiösen Bewegungen und Pfingstkirchen angeschlossen. Wie kann die katholische Kirche dagegenwirken?
Boff: Ich bin nicht gegen die Vielfalt der Kirchen. Jede Kirche ist Zeugin des Evangeliums und trägt dieses weiter. Aber im Fall Lateinamerika und insbesondere in Brasilien benötigen wir eigentlich hunderttausend Priester, um auf die spirituellen Nöte des Volkes eingehen zu können. Aber es gibt nur 17.000, davon sind 7.000 ausländische Priester. Institutionell gesehen ist die katholische Kirche in einer ganz großen Krise. Eine Hilfe wäre, das Gesetz des Zölibats – nicht den Zölibat an sich – abzuschaffen und die hunderttausend verheirateten Priester wieder einzuladen.
Frage: Stichwort Rehabilitation: Sie haben gesagt, dass Sie die Hoffnung haben, dass Papst Franziskus einige der bestraften Befreiungstheologen wieder rehabilitiert. Wird die Befreiungstheologie durch Papst Franziskus wieder aus der Unsichtbarkeit hervorkommen?
Boff: Unter den letzten zwei Päpsten wurden über 150 Theologen bestraft – und dies waren die besten Theologen in ihren Ländern. Es war eine richtige Kampagne gegen die Intelligenz des Glaubens. Franziskus hingegen ist kein Professor. Er will kein großer Intellektueller, sondern ein Pastor sein – mitten im Volk. Ich vermute, dass er viele Theologen, die in ungerechter Form bestraft worden sind, wieder rehabilitieren wird. Das bedeutet, dass sie wieder in Seminaren arbeiten können, wieder Vorträge halten und Exerzitien leiten dürfen. Das wäre eine Art Gerechtigkeit und zugleich ein Zeichen, dass die Kirche eine Versöhnung anstrebt. Wir spüren, dass die Kirche irgendwie gebrochen ist. Von vielen Christen wird die Kirche nicht als geistliche Heimat angenommen, sondern als große Institution, die meist im Rücken des Volkes steht, nicht vor ihm.
Das Interview führte Lena Kretschmann