Paulus hätte getwittert: Über die Chancen einer digitalen Kirche
10.000 Gläubige Tag für Tag beim Gottesdienst im Münchner Liebfrauendom – niemals! Und doch: Vor Corona undenkbar, erlebt das Interesse an den Gottesdiensten in der Kathedralkirche seit dem Lockdown einen Boom im Internet.
Per Livestream überträgt das Erzbistum München und Freising jeden Tag seit dem 15. März die Heilige Messe. An Werktagen sehen im Schnitt 7.500 zu, sonntags 13.000. Die Osternacht mit Kardinal Marx verfolgten gar 42.000, obwohl parallel das ZDF live eine Messfeier aus Mainz ausstrahlte.
Was Kardinal, Weihbischöfe und Domkapitulare in der Kathedrale mit mehreren Kameraperspektiven, liturgischen, musikalischen und technischen Profis praktizierten, wurde rasch auch in vielen Pfarreien Oberbayerns Usus. Technikaffine Oberministrantinnen und Pfarrgemeinderäte streamten landauf, landab. Dazu liegen leider keine Zahlen vor. Sicher ist, dass Abertausende erreicht wurden – mehr als je zuvor, davon geht die Stabsstelle Kommunikation im Erzbischöflichen Ordinariat in München aus.
Selbst nachdem ab Anfang Mai unter strengen Auflagen nach sieben Wochen Verbot wieder öffentliche Gottesdienste mit einer begrenzten Anzahl von Gläubigen in den bayerischen Kirchen erlaubt waren, blieben die Zugriffszahlen der Streams auf dem hohen Niveau. Den Rekord hält eine Messfeier am 28. Mai: 55.000 waren online dabei, als der Erzbischof die neuen Diakone weihte.
Dabei standen die Verantwortlichen im Erzbistum nach dem Lockdown zunächst praktisch vor dem Nichts, als wegen der Pandemie schlagartig der öffentliche Gottesdienstbetrieb dicht gemacht werden musste. Seit jeher waren sie es gewohnt, dass irgendwie die Gläubigen schon von selbst zu ihnen in die Pfarreien- und Domkirchen kommen würden. Vor Corona versammelten sich an einem normalen Sonntag so um die zehn Prozent der Katholiken zur Messe.
Man fasste sich ein Herz – und machte sich dorthin auf, wo sich die Leute trotz bestehender Kontaktverbote tummeln konnten: ins Internet. Bislang war das gewiss keine Paradedisziplin der Kirche. Die Accounts bei Facebook, Twitter, Youtube & Co., die mehr aus Pflichtschuldigkeit denn aus echter Überzeugung heraus angelegt worden waren, schlummerten so vor sich hin.
Der digitale Tiefschlaf passt indes ganz grundsätzlich nicht zum tieferen Wesen der Institution. "Gehet hin und lehret alle Völker", beauftragte Jesus die Jünger im Matthäus-Evangelium (28,19). Ergo brachte Paulus die Botschaft bis nach Rom, ins Zentrum der antiken Welt, von wo aus sie sich quasi viral verbreiten konnte. Man darf davon ausgehen: Heute würde der Apostel seine Message auch über soziale Medien bis in den letzten Winkel der Erde tragen.
Im Corona-Frühjahr entwickelte das Münchner Erzbistum neben den gestreamten Messen weitere Formate. Der wöchentliche Videoimpuls "Mittwochsminuten" erreicht jeweils um die 20.000 Zugriffe. Anfangs wurde er vom Kardinal und den Weihbischöfen bespielt, jetzt weitet sich der Kreis der Absenderinnen und Absender. Ebenso wurden etwa Text-Meditationen einer Ordensfrau aus dem Karmelitinnenkloster in Dachau als Serie auf Facebook angeboten oder aktuelle Auslegungen der Tageslesungen, welche Theologinnen und Theologen vornahmen, die aus den verschiedensten Bereichen stammten, von der Krisenintervention bis zur Flughafenseelsorge oder Trauerpastoral.
78 Prozent der Menschen, welche in den ersten sieben Monaten des Jahres 2020 auf die Website des Erzbistums (Reichweite: 7,2 Millionen) zugriffen, waren neue Nutzerinnen und Nutzer. Auch die Kurven auf den Social-Media-Kanälen gingen nach oben, was die Redaktion auf den Ausbau der dort eingestellten spirituellen Inhalte zurückführt. Hoffnung macht, dass die größte Altersgruppe der Website-Nutzer diejenige zwischen 25 und 34 Jahren ist (26 Prozent).
Die digitale Kirche ist keineswegs nur in München eine Erfolgsgeschichte. Auf der ganzen Welt beschreiten christliche Kirchen diesen Weg. Auch kontemplative Gemeinschaften entschlossen sich, den Menschen in der Coronakrise beizustehen – und übertrugen ihr Stundengebet aus der Klausur hinaus in die Welt.
Die digitale Kirche steht ganz am Anfang, auch wenn es schon seit Jahren sehr interessante Formate gibt. Es gibt noch viel zu entdecken. Und viel zu diskutieren.
Die Angst, dass die Angebote im Netz das Kultische und die Feier der Eucharistie verdrängen könnten, äußern manche. Sie ist unbegründet, denn die Sehnsucht der Menschen nach der Kommunion und nach persönlicher Begegnung im gemeinsamen Gottesdienst in der Pfarrkirche ist groß. Auch das hat die Corona-Krise gezeigt. Der Autor dieses Textes selbst kennt keinen gläubigen Katholiken, der sich wünschte, dass weitgehend auf Streams umgestellt wird. Aber das wollen die Befürworter einer digitalen Kirche ja gar nicht.
Vielmehr geht es um die Entfesselung von Möglichkeiten. Die Chance besteht darin, dass die digitalen Angebote zusätzliche Räume eröffnen können. Dass sich digitale und traditionelle Formen ergänzen, dass sie aufeinander verweisen.
Die Digitalisierung der Verkündigung wird personelle und finanzielle Ressourcen erfordern, um die erforderliche Innovationskraft aufzubringen. Dass Vernetzung und Kooperation dabei helfen, machen in der Privatwirtschaft etwa mittelständische Zeitungsverlage vor.
Ein neuer Paulus begegnet im Netz ganz gewiss vielen Leuten, die nie den Weg in eine Pfarrei gefunden hätten. Und vielleicht kann er sie dort begeistern für eine Idee, welche den Menschen seit mehr als 2.000 Jahren den Weg zu ihrem Heil weisen will.