Wie Reli-Schüler auf die Facetten des Lebens vorbereitet werden
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Meine Schülerinnen und Schüler sind individualistische, sehr auf ihre Freiheit bedachte Menschen. Was wir auch besprechen – das Phänomen des Glaubens und der Religion, die Frage nach Gott, nach dem Sinn des Lebens und der Vernünftigkeit des Gedankens, Hoffnung über den Tod hinaus zu tragen, die Frage nach Glück und Gerechtigkeit –, wie das Amen in der Kirche sagen sie früher oder später, dass da doch jeder seine eigene Ansicht hätte und das am Ende seiner individuellen Meinung gemäß auch jeder selber wissen und entscheiden müsse. Die Sätze fallen dann, wenn ich ihnen Angebote unserer Kultur zur "Bearbeitung" der oben erwähnten Problemkreise anbiete, die sie in der Regel erst einmal mit irgendeinem "Evangelium" verwechseln, dessen Autorität sie sich vermeintlich zu unterwerfen hätten. Klar, in der Schule wird eben der Unterrichtsstoff gelernt und als Gegebenes akzeptiert, jedenfalls bis zu einem hoffentlich annehmbaren Ergebnis im Test oder in der Klausur.
Es ist in jedem Kurs herausfordernd zu fragen, ob die Meinungen in den zentralen Fragen, mit denen wir uns im Leben herumzuplagen haben, tatsächlich so weit auseinander liegen. Was die Reaktion auf umstürzende Ereignisse in immer wieder auch sehr jungem Leben angeht, scheint es zunächst einmal keine zwei Meinungen zu geben. Unabhängig voneinander kam ich mit meinen Schülerinnen und Schülern aus zwei Kursen letztens im Zuge der Beschäftigung mit dem Person-Begriff auf schwierige Lebensumstände zu sprechen: darauf, was Würde ist und was einem Menschen die Würde vielleicht auch rauben könnte. Die eine Schülerin weinte um ihren demenzerkrankten, die andere um ihren bereits gestorbenen Opa. In seinem Meisterwerk "Venushaar" lässt der russische Schriftsteller Michail Schischkin eine Krankenschwester vor sich hin knurren: "Die Angst hört im Leben nicht auf… Erst haben wir Angst, schwanger zu werden, dann vorm Gebären, und hinterher ängstigen wir uns um unser Kind bis ins Grab." (Michail Schischkin: Venushaar. München 2011, S.95).
Ich las diese Sätze vor einigen Tagen und dachte, dass man das Leben und was es einem manchmal präsentiert, gar nicht treffender auf den Punkt bringen kann. Menschen haben Angst um ihre Liebsten, um sich, Angst vor dem, was ihnen das Leben wohl bringen mag. Selbstverständlich rückt die Prinzessin nach dem Stolpern ihre Krone wieder zurecht und setzt ihren Weg fort. Der Religionsunterricht ist kein Trauerseminar! Aber er hat auch nicht die Aufgabe, den Glauben oberflächlich als "Friede, Freude, Eierkuchen"-Perspektive zu verunstalten. Kürzlich hat eine Schülerin im sechsten Jahrgang einen Stein in die Morgenrunde gelegt und von der gestorbenen Katze erzählt. Dann stockt dir der Atem, und du schreibst bestimmt nicht als erstes dein Tafelbild über Metaphern. Dass die Schüler sich in ihrem Facettenreichtum zeigen können, ist ein Ausweis der Relevanz von Religionsunterricht, in dem es junge Menschen offenbar mit dem Leben zu tun bekommen, dessen ganze Fülle uns ja zugesagt ist. Das Leben in Fülle, das Jesus meint, ist nun ganz offensichtlich kein reines Zuckerschlecken. Aber gegen die Vergänglichkeit – und um diese geht es meiner Überzeugung nach letztlich – kann der Religionsunterricht sein Lied singen, dabei aus einem irren Fundus schöpfend, wie es Menschen gelungen ist aufzustehen und zu gehen.
Antworten, die mustergültig sind
Gegen den vermeintlichen Pluralismus zahlreicher Meinungen lässt sich, glaube ich, zeigen, dass es anthropologische Konstanten gibt, die irgendwie jeden angehen, weil sie Menschen schon immer angegangen sind. Nach manchmal mühevoller Arbeit im Unterricht stellt sich in der Regel heraus, dass Antworten, die sich in unserer Geschichte finden lassen, unter Umständen mustergültig und daher sehr gut zu gebrauchen sind. Die Frage Jesu an den Blinden: "Was willst du, dass ich dir tun soll?" ist in ihrer Schlichtheit ebenso mustergültig, über die Zeiten erhaben, wie die schlichte Antwort: "Ich möchte sehen!" Dieser Dialog findet statt, jeden Tag aufs Neue, an zahllosen Orten. Man darf ihn nicht scheuen. Und man muss an diesen Orten sein, beziehungsweise den Unterricht zu einem Ort gestalten, an dem der Dialog, wenn er denn ansteht, geführt werden kann.
Der Religionsunterricht hat sich zunächst um die anthropologischen Konstanten zu kümmern, eine Analyse der Conditio humana zu liefern – und zwar so ehrlich es irgend geht. Es hat keinen Sinn, Kinder und Jugendliche zu betrügen. Anschließend hat sich der Religionsunterricht um die Geschichten und Gedanken, die Texte und Ideen zu kümmern, die davon erzählen, wie das Licht sich der Finsternis erwehren könnte, die Schüler mit diesem Schatz zu beschenken in der Gewissheit, dass es ihren Lebensfundus bereichern und zu ihrer Orientierung beitragen wird.
Michail Schischkin hat für meine Begriffe eine zentrale anthropologische Konstante formuliert. Die Angst treibt viele um, manchmal schon die Fünftklässler samt ihren Eltern die Angst ums Abitur. Und wie viele Oberstufenleute haben Angst in einer Diskussion, ihre Meinung zu offenbaren! Die andere Konstante scheint mir in der von mir eigentlich gar nicht so sehr geschätzten Rede von der nach dem Sturz wieder zu richtenden Krone zu stecken. Es muss aber auch nicht immer das große geistesgeschichtliche Personal sein, oder? Sandra Klengler hat das Buch "Hinfallen, Aufstehen, Krone richten, weitergehen" geschrieben (Norderstedt 2012). Ich kenne den Titel als Spruch auf einer Postkarte aus dem Laden meiner Schwester. Wie auch immer: Den Weinenden und Trauernden ist in meinen Kursen noch immer auf berührende Weise Trost der Mitschüler zuteil geworden. Der Mensch hat offenbar die Fähigkeit aufzustehen und weiterzumachen. Eine Aufgabe sozialen Lernens in der Gruppe besteht darin, ihm dabei zu helfen und ihn nicht allein zu lassen. Es ist eine alljährliche schöne Aufgabe, den angehenden Oberstufenschülern ihre Fähigkeit zur "Selbsttranszendenz" bewusst zu machen. Der Religionsunterricht hat Raum und Gelegenheit, hier eine Menge zu bewirken.
Das letzte Wort kommt dieses Mal Amélie aus dem sechsten Schuljahr zu; es scheint mir hier gut zu passen. Sie sagte neulich zum Wert der Nächstenliebe die geflügelten Worte: "Die anderen sind ja auch verrückt."