Die Reben als Bild erfüllten Lebens – Weinlese mit Schwester Thekla
Die Weinberge sind bisher nur an vereinzelten Stellen mit gelben Flecken durchzogen, und die Reben stehen noch im vollen Saft. Um kurz nach acht brechen die ersten Strahlen der Morgensonne durch die Wolkendecke und lassen das dichte Laub der Weinstöcke aufleuchten. Das fast unwirklich grelle Grün steht in dramatischem Kontrast zu den dunklen Regenwolken, die sich am Horizont auftürmen. Bis an den Wegrand reichen die akkuraten Reihen der Reben und zeichnen in geschwungenen Linien die hügelige Landschaft des Rheingaus nach.
Hinter der obersten Blätterwelle tauchen die steinernen Doppeltürme der Basilika auf. Mit ihren dunklen Schieferdächern zeichnet sie sich scharf vor dem Morgenhimmel ab. Nach und nach kommen auch die restlichen Gebäude der Benediktinerinnenabtei St. Hildegard in den Blick, die inmitten der weitläufigen Weinberge majestätisch über dem Rhein thront. Im Jahr 1900 wurde oberhalb der Ortschaften Rüdesheim und Eibingen der Grundstein für das Kloster gelegt und damit die Gemeinschaft der berühmten mittelalterlichen Äbtissin und Gelehrten Hildegard von Bingen wiederbegründet. Anfangs bewirtschafteten die Schwestern nur ein paar Reben im neu angelegten Klostergarten zur Herstellung des eigenen Messweins. Nach und nach kamen aber immer mehr Weinberge hinzu. Heute ist die Kellerei eine der größten Einnahmequellen für die 42 im Kloster lebenden Schwestern.
Gottes Segen für die anstehende Arbeit
Sechzehn freiwillige Helfer haben sich an diesem Oktobermorgen zur Weinlese im Wirtschaftshof des Klosters zusammengefunden, dazu die drei angestellten Saisonarbeiter sowie einige Ordensschwestern. Immerhin ist das Klosterweingut der Abtei St. Hildegard das einzige in Deutschland, in dem die Ordensfrauen selbst für die Weinproduktion verantwortlich sind. Bis auf Mutter Dorothea Flandera, die Äbtissin der Gemeinschaft, sind die anderen Benediktinerinnen in der Gruppe jedoch nicht auf den ersten Blick zu erkennen: Wie die übrigen Erntehelfer tragen auch Thekla Baumgart und ihre Mitschwestern robuste Jeans, Arbeitsjacken und ackertaugliches Schuhwerk. Nur ein weites, aus hellblauem Baumwollstoff genähtes Hemd, dessen kurze Kapuze aus der dunklen Fleece-Weste hervorschaut, verrät als symbolisches Überbleibsel des Ordenskleids ihre Identität.
Es ist schon der dritte Einsatz zur Handlese in dieser Saison. Deshalb geht es heute informell zu, ohne besondere Rituale. Mutter Dorothea bedankt sich aber schon im Voraus für die fleißige Mithilfe und wünscht allen Gottes Segen für die anstehende Arbeit. Mit Autos geht es anschließend über holprige Feldwege abwärts zum "Backhaus", so heißt die Parzelle, in der heute geerntet wird. Dort steht bereits alles Nötige für die Lese bereit: ein großer Stapel dunkelgrüner Plastikeimer, daneben ein einzelner, in dem die schmalen Rebscheren mit den roten Metallgriffen liegen. Die drei Angestellten des Klosters statten sich mit hohen türkisfarbenen Kunststoffkörbe aus, die "Legel" genannt und an Lederriemen auf dem Rücken getragen werden. Damit steigen sie gleich die Reihen auf und ab und sammeln die geernteten Trauben aus den Eimern der Arbeiter ein. An der Böschung parkt ein breiter Traktoren-Anhänger, auf dem fünf große "Bütten" stehen. In diese knapp ein Kubikmeter fassenden rechteckigen Bottiche entleeren die Legel-Träger ihre 40 bis 60 Kilo schwere Last.
"Vier Bütten sollten wir heute Vormittag am besten noch voll bekommen", ruft Schwester Thekla Baumgart. Die 55-jährige frühere Gemeindereferentin hat sich nach ihrem Klostereintritt zur Winzergesellin ausbilden lassen und leitet heute das Weingut der Abtei St. Hildegard. Neben dem ganzen Organisatorischen rund um den Weinberg und die Ernte hat sie vor allem das Wetter im Blick: Zwar haben sich die dicksten Wolken etwas aufgelöst, aber ab dem Mittag ist Regen angekündigt. Nicht nur, dass es dann ziemlich unbequem für die Arbeiter wird. Das Regenwasser sammelt sich natürlich auch zwischen den Weinbeeren – und "das verwässert uns den Most", erklärt die Expertin. Je dünner der Traubenmost, umso schwächer der Geschmack, das verstehe sich ja von selbst. Deswegen gilt es jetzt, keine Zeit mehr zu verlieren und die trockene Witterung nutzen!
Die Einführung fällt dementsprechend kurz aus: Auf jede Rebenreihe kommen zwei Arbeiter. Eine Person rechts, eine links. Jeweils mit Eimer und Schere ausgestattet. Falls nötig die Deckblätter wegreißen und die Trauben direkt am Stil abschneiden – aber Vorsicht: Die Scheren sind sehr scharf!
Während sie spricht, steht Schwester Thekla kaum einen Moment still, ist ständig in Bewegung, hilft vielleicht einem der Freiwilligen, den Riegel an der Rebschere zu öffnen, oder klärt noch schnell mit den Angestellten, welche Bütte sie zuerst füllen sollen. Für ein wackelfreies Foto muss man die lebendige Ordensfrau schon eigens auffordern, kurz innezuhalten. Dann stemmt sie die Absätze der Gummistiefel ins feuchte Gras, wendet einem kurz ihr fröhliches, von einer bunten Strickmütze umrahmtes Lächeln zu – und wirbelt auch sofort weiter.
Fast 30 Jahre ist es nun schon her, dass die gebürtige Bremerin einem "Zug des Herzens" folgte und sich für das Leben als Benediktinerin am Mittelrhein entschieden hat. Damals hatte sie sich kaum etwas aus Wein, geschweige denn seinem Anbau gemacht. Ihre Oberin schickte die Novizin aber zur Unterstützung der hochbetagten Winzermeisterin in den Weinberg, wo sie nach und nach die Führung übernahm. Heute sei es für sie der ideale Beruf, sagt Schwester Thekla: Sie genieße die Arbeit in der freien Natur, könne sich im Marketing-Bereich des Weinguts kreativ entfalten und stehe beim Verkauf in der hauseigenen Vinothek in ständigem Kontakt zu den Gästen des Klosters.
Ora et labora
Mit der Vorstellung, dass auf ihren Weinbergen ein besonderer Segen liege, nur weil sie vom Kloster bewirtschaftet werden, tue sich Schwester Thekla schwer. "Das wäre ja auch ein zweifelhaftes Gottesbild", ergänzt sie. Außerdem seien die Abläufe hier im Klosterbetrieb im Wesentlichen nicht von der Produktion anderswo zu unterscheiden – abgesehen davon, dass sie als Ordensfrau ihre Aufgaben nach Möglichkeit im Rhythmus der Tagzeitenliturgie gestalte: Ora et labora.
Die Verbindung von Frömmigkeit und Alltag kann den Blick auf die Dinge verändern. Weinstock und Rebe sind für die Benediktinerschwester ein Bild erfüllten Lebens: Beide brächten ihre Frucht nicht aus eigener Kraft hervor, "sondern weil Gott es ist, der wachsen lässt und zur Reife bringt", sagt Schwester Thekla. So habe ihr die Arbeit im Weinberg nicht zuletzt Demut gelehrt. "Man kann alles tun, was man gelernt hat – aber das Letzte kommt von anderswo…", erklärt sie und meint damit die vielen Unabwägbarkeiten, mit denen jeder Landwirt umgehen muss: Bekommen die Pflanzen ausreichend Wasser, genug Sonne? Und beides zur richtigen Zeit? Bleibt der Weinberg von Schädlingen verschont? Gelingen die Ernte und die anschließende Geschmacksentfaltung in den Fässern? Der Blick der Winzerschwester richtet sich erneut gen Himmel: Vielleicht hat sie Glück und das Wetter hält noch eine Weile.
Währenddessen ist die Lese in vollem Gang und die Erntehelfer arbeiten sich über den teils mit struppigem Gras bewachsenen, teils klumpigen Lehmboden beidseitig an den Rebenreihen entlang. Schwer hängen die länglichen Trauben an den unteren Ästen der Weinstöcke und leuchten goldgelb wie auf dem Stillleben eines romantischen Malers. Die einzelnen Beeren sind über den langen Sommer so prall angewachsen, dass sie sich fast gegenseitig zerdrücken. Deshalb werden die Traubenstände unter dem Jahr bereits halbiert. Das gibt zwar insgesamt etwas weniger Ertrag, aber die einzelnen Beeren können sich dafür besser entwickeln. Eine Grundsatzentscheidung zwischen Menge und Qualität, die für Schwester Thekla außer Frage steht. "Wir setzen alles dran, das Beste aus den Trauben herauszuholen", sagt sie. Als Mengenerzeuger habe das Kloster mit seiner verhältnismäßig kleinen Rebfläche ohnehin keine Chance.
Der Verkauf von rund 40 bis 50 Tausend Flaschen Qualitätswein pro Jahr macht aber immerhin ein gutes Drittel der Gesamteinnahmen der Abtei aus. In den rund sieben Hektar umfassenden Weinbergen mit ihren klingenden Lagen-Namen wie Rüdesheimer Bischofsberg, Magdalenenkreuz und Klosterberg wachsen zu mehr als vier Fünfteln Rieslingreben, auf der restlichen Fläche baut das Klosterweingut Spätburgunder an.
Muntere Gespräche beim Gleichklang des Traubenschneidens
Inzwischen haben auch die noch unerfahrenen Gastwinzer einen gleichmäßigen Trott gefunden: Blätter rupfen, den Anfang der dicht verschlungenen Stile suchen, Traube abschneiden und in den Eimer werfen. Durch die wiederkehrende Tätigkeit verliert man bald jedes Gefühl für die Zeit – hat es vom Kirchturm gerade elf Uhr geläutet oder waren es bereits zwölf Schläge? Das gleichmäßige Rascheln des Weinlaubs, das metallische Klicken der Rebscheren und dumpfe Klappern der Eimer legt einen beinahe meditativen Geräuschteppich über den Ort. Wer im klösterlichen Weinberg allerdings fromme Gespräche oder Übungen während der Arbeit erwartet hat, dürfte an diesem Vormittag enttäuscht sein. "Das war vielleicht vor 30 Jahren noch so", sagt Schwester Thekla.
Natürlich würden einem zwischen den Reben die zahlreichen biblischen Bilder und Gleichnisse rund um den Weinanbau in den Sinn kommen und sich mitunter neu erschließen, bestätigt die Benediktinerin. Aber deshalb sei die Weinlese trotzdem eine ganz gewöhnliche Arbeit, bei der man nicht Rosenkranz betend durch die Reben gehen müsse. "Frömmigkeit bedeutet für mich, das was mir aufgetragen ist, zu tun", erläutert die Ordendsfrau ganz schlicht ihre Lebensphilosophie. So entspinnen sich zwischen den Schwestern und den freiwilligen Hilfskräften an diesem Vormittag ganz profane Gespräch – über die heimischen Fußballvereine und deren Vorzüge gegenüber den großen Clubs, über die Einschränkungen des klösterlichen Gästebetriebs während der Corona-Pandemie, und natürlich über die grotesken Zustände in der US-amerikanischen Politik.
Auch wenn die Weinberge im "Backhaus" bei weitem nicht zu den steilsten Lagen im Rheingau gehören, hat es der Anstieg an manchen Stellen schon in sich. Deshalb kann Schwester Thekla hier auch nicht mit dem hochtechnisierten Vollautomaten ernten lassen, sondern ist auf auswärtige Unterstützung für die Handlese angewiesen. Und die kam auch dieses Jahr zum Glück wieder zahlreich: Während einige "alte Hasen" regelmäßig bei der Lese mitarbeiten, sammeln andere Helfer heute ihre ersten Erfahrungen im Weinberg. Zur Mithilfe seien selbstverständlich alle willkommen, betont Schwester Thekla, egal ob kirchlich verwurzelt oder "religiös unmusikalisch", jung oder alt – die älteste Teilnehmerin an der diesjährigen Weinlese feiert demnächst gar ihren 81. Geburtstag.
Verdiente Stärkung im Klostercafé
So sehr man sich am Traubenschneiden in der frischen Herbstluft erfreuen kann, hören die Meisten den Ruf von Schwester Thekla doch mit Erleichterung: "Das war die letzte Reihe für heute!" Sie hatte kaum zu hoffen gewagt, dass sie den ganzen Bereich an einem Stück schaffen würden. Und das sogar noch rechtzeitig vor Beginn des Regens! Vier der großen rechteckigen Bütten sind jetzt voll, fast drei Kubikmeter Trauben haben die Helferinnen und Helfer an diesem Vormittag geerntet. Mehr würde gar nicht auf einmal in die neue Kelter passen, die in der klostereigenen Weinkellerei steht. Dorthin ist der Ernteanhänger jetzt unterwegs, während sich die erschöpften Kurzzeit-Winzer im Klostercafé mit heißer Suppe, frischem Flammkuchen und einem wohlverdienten Gläschen "Pilgertrunk", einem feinherben Riesling Jahrgang 2019 stärken.
Für Deutschlands einzige Winzer-Schwester ist die Pause nur kurz. Kaum hat sie sich an den Mittagstisch gesetzt, springt sie schon wieder auf und muss ans Telefon: Arnulf Steinheimer, der Kellermeister gibt von nebenan Bescheid, dass er gleich mit dem Einmaischen der heutigen Ernte beginnt. Nach einem Tag "Maischestand" wird der Traubenmost dann in die verschiedenen Edelstahlstanks gepumpt. Es folgen Sedimentation, Vergärung, die Filtrierung und der aufwändige Prozess des Ausbauens und Veredelns… Und für Schwester Thekla Baumgart vor allem das gespannte Abwarten, wie der neue Jahrgang wird – denn "das Letzte kommt von anderswo."