US-Wahl: Das gespenstische Warten auf Erlösung
Hätte man vielen Umfrageinstituten in den Vereinigten Staaten geglaubt, hätte am Mittwochmorgen bereits ein deutlicher Wahlsieg für den demokratischen Kandidaten Joe Biden feststehen sollen. Doch es kam, wie es schon 2016 der Fall war: Die Wählerstimmen in den USA folgten über weiten Strecken keinen berechenbaren Gesetzen und die Ergebnisse in den einzelnen Bundesstaaten weichen mitunter erheblich von angestellten Prognosen ab. Der vorausgesagte Vorsprung für Biden wurde in gleich mehreren Bundesstaaten umgedreht, am wichtigsten dabei wohl der schon vor vier Jahren entscheidende "Battleground-State" Florida. Hier konnte Amtsinhaber Donald Trump erneut wichtige Stimmen im Wahlmänner-Komitee ("Electoral College") holen.
Obwohl Trump bis Jänner 2021 noch fest im Sessel des Weißen Hauses sitzt, ist die Entscheidung darüber, wer darauf in den kommenden vier Jahren Platz nehmen darf, zumindest vorerst vertagt. Aller Voraussicht nach werden sich Gerichte in den Bundesstaaten, letztlich wohl auch das neunköpfige Gremium des Obersten Gerichtshofes mit der Präsidentschaftswahl 2020 beschäftigen müssen, um zu einem amtlichen Endergebnis zu kommen. Erinnerungen werden wach, als im Jahr 2000 der "Supreme Court" die Neuauszählung der Stimmen in Florida stoppte und so den Republikaner George W. Bush zum Wahlsieger machte.
Licht und Finsternis, Hoffnung und Unheil, Erlösung und Verderben
Dabei hätte 2020 alles anders sein können: Nur wenige Beobachter innerhalb und außerhalb der USA hätten Trump noch ernsthafte Chancen auf eine Wiederwahl eingeräumt. Die Corona-Krise, die horrenden Arbeitslosenzahlen, die Wirtschaft am Boden sowie scheinbar nicht enden wollende Wellen neuer Todesopfer durch die gegenwärtige Pandemie hätten auf einen angeschlagenen US-Präsidenten hingedeutet. Fast verzweifelt schienen seine Versuche, mit der konservativen Richterernennung im "Eilzugstempo" von Amy Coney Barrett in den Obersten Gerichtshof wichtige Stimmen in der konservativen Wählerschaft einzufahren. Oder waren dies doch die entscheidenden Kniffe im "Wahlsystem Trumps"? Konnte er mit der bereits dritten Besetzung eines Postens im "Supreme Court" jene argumentative Grundlage liefern, die sein Slogan "Keep America Great!" (etwa: Amerika großartig beibehalten!) kurz vor der Wahl noch sehnlichst brauchte?
Vor der Wahl am 3. November hätte man tatsächlich glauben können, die USA stünden am Abgrund – wieder einmal, würden wohl diejenigen unterstreichen, die sich mit dem Politgeschehen in "God’s Own Country" näher beschäftigen: Untergangsstimmung (sei es reale oder autosuggestiv heraufbeschworene) gehört dort schon fast zum Stimmungsbild, das sich alle vier Jahre in den Debatten rund um die Präsidentschaftswahlen widerspiegelt. "Apocalypse Now", könnte man meinen: Die Kandidaten werden von unterschiedlichen Seiten inszeniert, in Schattierungen zwischen Licht und Finsternis, Hoffnung und Unheil, Erlösung und Verderben getaucht. Die Polarisierung der Bevölkerung ist bereits Teil des ausgeklügelten Strategiekomplexes beider Großparteien. Dies war auch 2020 nicht anders, sondern wurde möglicherweise durch die aktuellen Krisenzeiten bzw. die umstrittene Person des amtierenden Präsidenten noch einmal befeuert. Ob diese Wahl zum vielbeschworenen "Scheideweg" wird, lässt sich derzeit aber wohl noch nicht abschätzen.
Hoffnungsszenarien und Erlösungsnarrative bilden für die US-Politik ein wesentliches Schaltmoment: In ihnen kommen die religionspolitisch nach wie vor wirksamen Motive von "Erwählung", "Verantwortung" sowie die weithin sichtbare Vorstellung von Amerikas quasi-göttlicher Vorreiterrolle in der internationalen Politik zusammen. Der vielzitierte Segen des "God Bless America" zeigt sich für zahlreiche Bevölkerungsschichten auch im 21. Jahrhundert nicht zuletzt an Person und Politik des US-Präsidenten. Lange Zeit waren es evangelikal geprägte Freikirchen, die den Slogan des "Christlichen Amerika" hochhalten wollten, in den letzten Jahren zeigte sich deutlich, dass das patriotische Selbstbewusstsein und der darin namenlos verankerte Gottesbezug auch jenseits klassischer Religionsgemeinschaften nach wie vor große Bedeutung besitzen.
Wie wirksam die konfessionell lange Zeit eng geschlossenen Trennlinien in der Wahl 2020 waren, dürfte eine spannende Frage für die kommenden Wochen werden. Fakt ist, dass sich das amerikanische Selbstbewusstsein nicht mehr in konfessionellen Grenzziehungen bildet, sondern dass die Bruchlinien quer durch die Religionsgemeinschaften verlaufen und Allianzen zwischen "konservativ" und "liberal" beschworen werden – was auch immer das im Einzelfall heißt. Dazu kommt, dass in den USA Prozesse von Säkularisierung (vor allem in den Küstenstaaten bzw. den nördlichen Landesteilen) einhergehen mit einer gleichzeitigen Fokussierung auf konservative Wertpolitik im Süden und Mittleren Westen. Beide Faktoren wurden bis tief in die 1990er Jahre etwas vom bekannten Religionssoziologen Peter L. Berger als sich ausschließende Phänomene betrachtet. Dennoch finden sie besonders in den USA der letzten Jahrzehnte beide in vielen Bundesstaaten eine parallele Entwicklung. Die gesellschaftliche Fragmentierung der USA ist ein fortlaufender Prozess, keinesfalls ein vorauszusehender oder gar abgeschlossener Weg. Auch die Wahl 2020 ist nur ein Puzzlestück in dieser Neujustierung der US-Gesellschaft. In den kommenden Jahren werden sich diese Umschichtungen auch jenseits der traditionellen geographischen Unterteilungen in der US-Gesellschaft weiter verfestigen.
Trump mit Stimmenzuwächsen bei Latein- und Afroamerikanern
Was sich jedoch nach dem Wahltag 2020 schon deutlich erkennen lässt, ist, dass die US-Bevölkerung – und damit auch die Wahlmilieus – in einem rasanten Wandel sind: Die vor Jahrzehnten noch existierenden "Blöcke" lassen sich heute nur mehr schwer ausmachen, schon gar nicht mehr definitiv festlegen. Wer etwa geglaubt hat, Trumps restriktive Einwanderungspolitik und sein öffentliches Kokettieren mit rassistischen Gruppierungen würden ethnisch diverse Wählergruppen von seiner Wahl abhalten, wurde eines Besseren belehrt. Ausgerechnet im so umkämpften Bundesstaat Florida dürfte (wie die ersten Prognosen zeigen) Trump besonders durch Stimmenzuwächse bei lateinamerikanischen und afroamerikanischen Bürgerinnen und Bürgern gepunktet haben. Deutlich wurde hier, dass es vor Allem der Blick auf die Wirtschaft, die Arbeitslosenzahlen und weniger die Sorge um dessen Einwanderungspolitik, internationale Verträge, das Gesundheitssystem oder die Klimapolitik waren, die die Menschen Trump wählen ließen. In diesen Fragen wird dem Amtsinhaber nach wie vor mehr Kompetenz zugeschrieben als seinem demokratischen Kontrahenten, wohingegen jener bei den anderen Themen hätte punkten können.
Aus internationaler Sicht dürfte 2020 (nach 2016 und den Mid-Term-Wahlen 2018) noch einmal deutlicher werden, dass die Politfigur Trump auch nach seinen turbulenten ersten Jahren und einer andauernden Krise in den USA offenbar eine durchaus wählbare Alternative zu traditionellen Führungsstilen ist. Das wird auch unabhängig vom Ausgang der aktuellen Wahl auf die kommenden politischen Entwicklungen in den US-Parteien enorme Auswirkungen haben. Der "Trumpismus" – wie Trumps Stil immer wieder gerne genannt wird – ist auf dem besten Weg dazu, dauerhaft salonfähig zu werden. Die Wahrnehmung Trumps im eigenen Land geht nicht selten völlig konträr zur internationalen Einordnung – was an unterschiedlichen Perspektiven, aber auch der politischen Orientierungslosigkeit mancher Bevölkerungskreise innerhalb der USA liegen dürfte. Ihnen gibt Trump einerseits durch seine offensive Art, seine markanten Auftritte eine Identifikationsfigur (oder zumindest ein Feindbild), andererseits liefert Trump etwa mit seinen restriktiven Personalentscheidungen oder einer konsequent konservativen Pro-Israel-Politik wichtige Signale von konservativer Stabilität, die über moralische Hinfälligkeiten seiner Person hinwegschauen lassen. Auch wenn es aus europäischer Sicht schwerfällt: Der international enorm schlingernde Kurs Trumps, seine Unberechenbarkeit in multilateralen Beziehungen oder seine US-zentrierte "America First"-Politik werden in der innenpolitischen Wahrnehmung nicht selten als Anschein von Konstanz und Sicherheit wahrgenommen
Nun heißt es warten. Wie lange, das werden die nächsten Stunden, möglicherweise Tage und Wochen zeigen. Was sich sicher schon abschätzen lässt: Auf die ersehnte Erlösung, was das in den unterschiedlichen Perspektiven der Wählergruppen, Parteien oder Gesellschaftsschichten auch bedeuten mag, werden die USA wohl lange warten müssen. Für die religiös anmutende Inszenierung ihrer Kandidaten (und gleichzeitige Dämonisierung der Gegenseite) zahlen die Parteien Jahr für Jahr, Wahlkampf für Wahlkampf, Wahl für Wahl jedoch einen erheblichen Preis: Die Polarisierung der Bevölkerung mithilfe von ernstgemeinten, suggerierten oder konstruierten Erlösungsperspektiven, die nach der Wahl fast unmöglich wieder überbrückt werden können.
Der Autor
Andreas G. Weiß ist Theologe und Religionswissenschaftler mit Forschungsaufenthalten in den USA. Der Referent im Katholischen Bildungswerk Salzburg ist Mitglied der "American Academy of Religion" (AAR).