Vor zehn Jahren wurde die unvollendete Kirche von Benedikt XVI. geweiht

Sagrada Familia: Ewige Baustelle und Gotteshaus der Superlative

Veröffentlicht am 07.11.2020 um 13:45 Uhr – Lesedauer: 

Barcelona ‐ Ohne Corona wäre die berühmteste Kirchen-Baustelle der Welt, die Sagrada Familia, in diesem Jahr von Millionen Touristen bestaunt worden. Viele Besucher sind von ihren gigantischen Ausmaßen beeindruckt – doch die besondere Ausstrahlung der Kirche liegt in ihrem theologischen Programm begründet.

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Als Benedikt XVI. die Sagrada Familia in Barcelona heute vor zehn Jahren weihte, übergab er die Kirche damit ihrer Bestimmung als Ort des Gottesdienstes. Doch anders als man vielleicht erwarten könnte, befand sich das Gotteshaus damals noch im Bau – ein Zustand, der bis heute andauert. Vielen erscheint die Sagrada Familia als eine ewige Baustelle, denn ihr Grundstein wurde bereits im Jahr 1882 gelegt. Für den Kopf hinter dem "Sühnetempel der Heiligen Familie", wie die mit der Konsekration von Benedikt XVI. in den Rang einer Basilika minor erhobene Kirche offiziell heißt, war das kein Problem: "Mein Kunde hat keine Eile", soll der Architekt Antoni Gaudi geantwortet haben, als er auf den Zeitpunkt der Fertigstellung des Bauprojekts von geradezu gigantischen Ausmaßen angesprochen wurde.

Förderung des Heiligen Familie

Die Idee für den Bau eines Sühnetempel stammt von Josep Maria Bocabella, einem Autor religiöser Schriften und Buchhändler aus Barcelona. Das Herzensanliegen des frommen Mannes war die Förderung der Verehrung der Heiligen Familie und der christlichen Erziehung von Kindern und Jugendlichen. Bocabella gründete 1866 einen Verein mit dem Zweck, finanzielle Zuwendungen für den Bau einer Kirche zu sammeln, die ausschließlich durch Spenden bezahlt werden sollte. 1881 konnte er ein Grundstück in der Umgebung von Barcelona kaufen, das wenige Jahre später dem Gebiet der Hauptstadt Kataloniens eingemeindet wurde.

Die Kirche Sagrada Familia in Barcelona
Bild: ©stock.adobe.com/marchello74

Die Sagrada Familia befindet sich im Barceloneser Viertel Eixample.

War zunächst ein Nachbau der Kirche im italienischen Marienheiligtum Loreto geplant, entschied man sich schließlich für ein Gotteshaus nach dem Geschmack der damaligen Zeit im neugotischen Stil. Ein Jahr nach der Grundsteinlegung übernahm nach einem Zerwürfnis mit dem ursprünglichen Architekten der damals 31-jährige Gaudi die Bauleitung. Er vollendete zwar die bereits angefangene Krypta, gestaltete die Pläne für den Sühnetempel jedoch grundlegend um: Eine große anonyme Spende hatte es ermöglicht, nun statt einer dreischiffigen Kirche mit zwei Türmen, ein Gotteshaus mit fünf Kirchenschiffen und 18 Türmen in Angriff zu nehmen.

Katalanischer Modernisme

Die auf die Gotik anspielende Linienführung, Raumaufteilung und Grundriss wurden beibehalten, jedoch von Gaudi sehr eigenwillig im Stil des katalanischen Modernisme interpretiert, der zeitgleich mit dem in Deutschland beheimateten Jugendstil entstand. Der tiefreligiöse Architekt ging jedoch darüber hinaus und entwickelte einen abstrakt-expressionistischen Stil, der sich an der Schöpfung orientierte. Mit der Ausgestaltung der Sagrada Familia wollte Gaudi, der bis zu seinem Unfalltod 1926 insgesamt 43 Jahre an der Kirche gearbeitet hatte, den Glauben durch Architektur ausdrücken.

Zeigen lässt sich das etwa an den drei geplanten Fassaden der Kirche: Die Geburtsfassade wurde größtenteils zu Lebzeiten Gaudis in dem ihm eigenen verspielten Stil fertiggestellt. Sie zeigt am Nordosten der Sagrada Familia in vielen Details biblische Erzählungen rund um die Geburt Jesu: vom Weg Marias und Josefs nach Bethlehem, über die Geburtsszene bis hin zum Kind Jesu im Tempel. Drei Portale, die die christlichen Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe symbolisieren, führen ins Innere der Kirche.

Die Passionsfassade der Kirche Sagrada Familia in Barcelona
Bild: ©stock.adobe.com/Sergii Zinko

Die Passionsfassade der Sagrada Familia liegt auf der Südwest-Seite der Kirche und wurde erst nach Gaudis Tod begonnen.

Der Geburtsfassade gegenüber liegt die Passionsfassade, die erst nach Gaudis Tod begonnen wurde und noch unvollendet ist. Mit viel gröber wirkenden Figuren und klaren, scharfen Linien zeigt sich hier eine Weiterentwicklung des auf Gaudis Werken beruhenden Stils, der zudem mit den grausamen Ereignissen des Leidens und Sterbens Jesu korrespondiert. 1987 begann der katalanische Bildhauer Josep Maria Subirach mit der Arbeit an der Passionsfassade. Seine Figuren wurden in ihren Formen teilweise als unpassend wahrgenommen, obwohl Gaudi sich "furchteinflößende Figuren" für die Passion gewünscht haben soll.

Die dritte Fassade, die als Hauptportal in die Sagrada Familia hineinführen soll, wird die Herrlichkeit Gottes zum Thema haben. Die Arbeit an ihr wurde noch nicht begonnen und zudem soll noch ein Häuserblock, der den Blick auf die Fassade versperrt, abgerissen werden. Mit dieser Maßnahme sind einige Barceloneser nicht einverstanden, da sie eine Zerstörung ihres als Eixample bekannten Viertels befürchten, das aus vielen quadratischen Häuserblocks mit abgeschrägten Ecken besteht. Dass die Sühnekirche nicht nur Freunde hat, haben in den vergangenen Jahrzehnten mehrere Vorstöße von Architekten und Intellektuellen gezeigt, die einen Baustopp für die gigantische Kirche gefordert haben – bislang ohne Erfolg.

Das ist nicht verwunderlich, denn die Sagrada Familia hat sich zu einem Touristenmagneten entwickelt. Die unvollendete Kirche stellt die beliebteste Sehenswürdigkeit Spaniens dar, mit jährlich rund zwei Millionen Besuchern und weitaus mehr Bewunderern, die lieber auf dem Bürgersteig vor dem Gotteshaus stehen bleiben, weil sie sich davor scheuen, den stetig steigenden Eintritt von derzeit 20 Euro zu bezahlen – auch wenn das Geld für die Baukosten verwendet wird und damit einer Spende gleichkommt.

Die Kirche Sagrada Familia in Barcelona
Bild: ©stock.adobe.com/Mistervlad

Über dem Altar in der Sagrada Familia hängt ein monumentales Kreuz.

Wann genau die weltberühmte Kirche vollendet wird, steht derweil in den Sternen. Eigentlich sollte 2026 die Fertigstellung gefeiert werden, doch sinkende Einnahmen aufgrund des Ausbleibens der Besucher wegen der Corona-Krise zögern das Ende des Bauaktivität weiter hinaus. Auch der Blick auf die schon jetzt imposante Kirche zeigt, dass zur Realisierung der Vision Gaudis noch viel zu tun ist. Denn von den geplanten 18 Türmen sind bislang erst acht fertiggestellt. Es handelt sich dabei um je vier Aposteltürme über den beiden (nahezu) fertigen Fassaden.

Türme sollen an bischöflichen Krummstab erinnern

Insgesamt sind zwölf Türme für die Zwölf Apostel geplant, die in ihrer Form zudem an einen bischöflichen Krummstab erinnern sollen. Vier weitere Türme über dem Zentrum des Kirchenschiffs sollen an die vier Evangelisten erinnern und die restlichen zwei an die Jungfrau Maria und Jesus Christus. Der Christus-Turm wird als Hauptturm der Basilika eine Höhe von 172,5 Metern haben. Somit würde er den Turm des Ulmer Münsters als höchsten Kirchturm der Welt um elf Meter hinter sich lassen – ganz so, wie es sich für eine Kirche der Superlative gehört. Dennoch war es Gaudi wichtig, seine Kirche nicht höher als die Barcelona umgebenden Berge zu bauen. Daran halten sich auch die heutigen Baumeister der Sagrada Familia, denn das Gotteshaus soll dem Ruhm Gottes dienen und nicht seine Schöpfung in den Schatten menschlichen Könnens stellen.

Von Roland Müller