Was Schüler aus dem Reli-Unterricht behalten sollten
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Im ersten Band der Gotteslehre seiner "Poetischen Dogmatik" kommentiert der Dogmatiker Alex Stock den Essay "Orte genug" von Huub Oosterhuis (Poetische Dogmatik: Gotteslehre: 1.Orte. Paderborn u.a. 2004, S. 18-29). Oosterhuis benennt "Orte genug, wo über Gott gesprochen wird. Auch Zeiten." (S. 19). Jemandem "schwärt noch irgendwo" (S. 24) im Gedächtnis das Wort "Gott" nebst einigen Fragmenten aus dem Glaubensbekenntnis: "auf einmal war es wieder da, vor kurzem, beim Begräbnis meiner Mutter; ich denke, daß es durch die Melodien kam" (S. 25). Mit Stock erscheint es mir wichtig zu sein, dass es "weniger die Gedanken, also das Nachdenken über den Tod ist..., das den Gedanken an Gott auftauchen lässt, sondern die Melodien...; das Gewölk, aus dem der Blitz kommt" (S. 25). "Melodien", "Gewölk", aus dem wie ein "Blitz" das Wort Gott plötzlich wieder auf der Bildfläche erscheint – diese Stichworte ließen mich in den Herbstferien erneut über den Sinn und die Chancen des Religionsunterrichts nachdenken. Auf zwei Aspekte möchte ich in dieser Kolumne eingehen.
Der eine Aspekt beschäftigt sich mit den "Melodien". Wir wäre es, wenn der Religionsunterricht eine "Melodie" sein könnte, an welche sich Menschen, die einmal Schülerinnen und Schüler gewesen sind, erinnern! In deren Leben das alte Gerücht, von dem in der Schule beharrlich zu "erzählen" ist, eines Tages wie ein Blitz Platz greift, und sei es noch so fragmentarisch, aber vielleicht als kleine Orientierungshilfe in einer Situation, in der ein Wegweiser willkommen ist! Der Religionsunterricht als Herstellung eines Gewölks, das diesen Blitz beherbergt – mir gefällt dieser Gedanke.
"Melodien" für das ganze Leben
Die Melodien müssten von Menschlichkeit, von Freiheit, von Gerechtigkeit, von Frieden, von Leben singen, von den Geschichten, in denen dies alles wirklich wird; sie müssten von Hoffnung auf Erlösung und Versöhnung singen und davon, dass es einen Himmel gibt für verstorbene Mütter (Väter, Großeltern...) ebenso wie für geliebte Haustiere. Ich täte dann im Grunde genommen nichts anderes, als den Kindern und Jugendlichen solche Melodien ins Ohr zu setzen, ihnen das Gottesgerücht zuzuflüstern. Ich bin davon überzeugt, dass es ein Lebensmittel ist, in entscheidenden Lebenssituationen sehr nahrhaft und daher gut zu gebrauchen. Ich lege Wert darauf, dass ich es flüstere, gewissermaßen als Angebot, welches den Schülern den gebührenden Freiraum lässt und sie nicht überwältigt. Geschrei jeglicher Art ist völlig unangebracht. Es kommt immer wieder vor, dass ich recht kleinlaut werde, weil die Argumente derer, die das Leid als "Fels des Atheismus" (Büchner) gegen mein Flüstern in Stellung bringen, kaum von der Hand zu weisen sind. Meine Rückmeldungen zeigen mir allerdings auch, dass die Melodien ihre Spuren hinterlassen und der Religionsunterricht durchaus von einer ganzen Reihe meiner Schülerinnen und Schüler als Refugium der Freiheit und der freien Entfaltung wertgeschätzt wird.
Vor einigen Wochen hatte ich in diesem Zusammenhang ein schönes Erlebnis mit Sechstklässlern. Die Melodie von Freiheit und Erlösung, die ich über die Geschichte von Jesus in der Synagoge anstimmen wollte, wurde als unrealistisch und daher unglaubwürdig befunden. Wie könne ein Blinder sehen, wurde gefragt. Ich habe gelernt, auf solche Problemanzeigen meist sehr "bewegt" zu reagieren und per Mini-Bibliodrama die Bibel einen Moment ganz ins Leben zu holen. Ich fragte, wer sich traue, seine Nase-Mund-Bedeckung, im Volksmund "Maske" genannt, statt nach unten über das Kinn nach oben über die Augen zu ziehen und einen kleinen Gang durch den Klassenraum zu wagen.
Eine Schülerin betrat die Bühne und machte sich gestenreich tastend auf den Weg. Ich warf "Und nun?" in den Raum. Sofort machte sich eine Handvoll Kinder auf den Weg, um der "Blinden" zur Seite zu stehen. Wegen der geltenden Sicherheitsregeln musste es für dieses Mal bei Andeutungen bleiben. Die "blinde" Schülerin aber merkte so viel an Unterstützung, dass sie äußerte, sie habe sich sicherer und sehender gefühlt. Wenn man Jesu Aufforderung an den Gesetzeslehrer, sich als Nächster jedem Nächsten gegenüber zu verhalten (Lk 10,37), beherzigt und dann daran denkt, dass in diesem Geschehen das Reich Gottes bereits Wirklichkeit wird, dann haben wir in dieser Stunde ein starkes Zeichen gesetzt und dem Gerücht von einem Gott, der uns gut sein möchte – aber eben über andere Menschen – reichlich Nahrung gegeben. Wie schön wäre es, wenn ein solches Erlebnis den Reigen der oben angedeuteten Melodien bereichern könnte!
Der andere Aspekt beschäftigt sich mit der "Gedächtnis-Ablagerung Gott", von der Axel Stock im Zusammenhang mit den "Melodien" schreibt und die mich ein wenig traurig stimmt. Das alte Wort "Gott" erscheint Stock, wie er Oosterhuis versteht, als eine "Ablagerung im Gedächtnis, eine alte Spur, eine Art Narbe, eine nicht ganz verheilte, noch etwas offene, weiter schwärende Wunde, nicht etwas vollends Abgeschlossenes, Abgeheiltes. Aber in einer entlegenen Region des Gedächtnisses" (S. 25). Das Wort sei nicht isoliert, es habe "eine kleine Umgebung", einen "Hof" (S. 25). Und dann zählt Stock eine Reihe Attribute auf, Fragmente aus dem Glaubensbekenntnis, angefangen von "allmächtig", über "gekreuzigt" bis hin zur Wiederkunft Christi.
Über den Relavanzverlust der Religion
Mich macht das traurig, wenn ich darüber nachdenke und weiß, dass viele meiner Fünftklässler bereits in genau dieser Situation sind. Wenn ich sie irgendwann im Lauf des Schuljahres, wenn es um metaphorische Gottesrede geht, bitte, mit Hilfe von Bildern zu erzählen, wie sie sich Gott vorstellen, bekomme ich es mit "Ablagerungen im Gedächtnis" dieser Kinder zu tun. Es gibt diese "Spur", ja. Aber bei vielen Kindern, und je erwachsener sie werden, umso deutlicher wird dies, handelt es sich bei dem Wort "Gott" bereits um eine "Narbe" eine "Wunde" schwieriger und wenig vertrauenserweckender Erfahrungen mit der Rede von Gott. Für die meisten Kinder hat Religion, hat die Rede von Gott kaum mehr Relevanz. Religiöse Sozialisation scheint in sehr vielen Fällen nicht über die Perspektive hinauszugehen, welche in das berühmte Gebet mündet: "Lieber Gott mach mich fromm, dass ich in den Himmel komm." Und über den Sinn eines Sechs- bzw. Siebentagewerkes muss man nicht nachdenken, wenn der Sonntag im Bewusstsein der Gesellschaft ohnehin dem Wochenende zugeschlagen wird.
Ich nehme das zur Kenntnis und scheue mich nicht, in vielen Fällen religiöse Sozialisation als Schande zu bezeichnen. Aber kleine Erlebnisse wie das Geschilderte können möglicherweise dazu beitragen, das Gottesgerücht mit Alltäglichkeiten und Fragen der Kinder in Beziehung zu setzen, die über das Moralische und einen gewissen Handel mit Gott hinausgeht und die Relevanz einer Hoffnung auf Erlösung zumindest in solch bewegten Stunden aufscheinen lässt.