Wie Menschwerdung wirklich gelingen kann
HTML-Elemente (z.B. Videos) sind ausgeblendet. Zum Einblenden der Elemente aktivieren Sie hier die entsprechenden Cookies.
Inklusion ist ein großes Wort. Für uns Lehrerinnen und Lehrer klingt es aufgrund der aktuellen schulpolitischen Debatten nach Mehrarbeit, höheren Anforderungen und viel, viel Stress. In den vergangenen Jahren ist es tatsächlich gelungen, aus einem wertvollen und wertschätzenden Ziel umfassender Pädagogik ein Bürokratiemonster zu schaffen. Deshalb freue ich mich, wenn Sie nach dem ersten Wort dieses Textes es bis hierher geschafft. Danke!
Vor dem Hintergrund unseres hoch selektiven Schulsystems muss man den Skeptikern sogar zum Teil recht geben. Inklusion wird viel zu häufig wie eine "Integration + X" verstanden. "Irgendwie beginnt das alles bei Menschen mit Behinderung, die wir irgendwie für unser bewährtes System passend machen müssen bzw. das System für die, und dann irgendwie noch ein bisschen mehr." Diese sehr plakative Zusammenfassung spiegelt leider viel zu häufig das, was bei Kolleginnen und Kollegen nach eintägigen, mindestens genauso plakativen Lehrerfortbildungen hängen bleibt.
Soll es jetzt der Religionsunterricht mal wieder richten? Um Himmels Willen: Nein! Derzeit lese ich mit Begeisterung die Veröffentlichungen zur "Inklusiven Religionspädagogik der Vielfalt" von Thorsten Knauth, Rainer Möller, Annebelle Pithan und vielen anderen, die Wege und Möglichkeiten und vor allem theoretische und theologische Grundlagen für Inklusion und besonders inklusiven Religionsunterricht aufzeigen. Das ist vielleicht noch nicht der Weisheit letzter Schluss, aber ich freue mich darauf, wenn wir uns über Konfessions- und auch Religionsgrenzen hinweg zu dieser Fragestellung auf den Weg machen.
Inklusion als hochaktuelles Thema
Wie hochaktuell und religionspädagogisch relevant dieses Thema ist und sein muss, wird aber erst im Religionsunterricht selbst so richtig bewusst und bewusst gemacht.
Menschwerdung! Das zentrale Thema oder zumindest die zentrale Perspektive vieler, wenn nicht sogar der meisten Stunden Religionsunterricht im Advent. Man kommt nicht wirklich dran vorbei und will das auch gar nicht, denn eigentlich ist es zentraler Bestandteil unseres Glaubens und nicht umsonst feiern wir Jahr für Jahr genau dieses Fest.
In meiner Mittelstufenklasse behandeln wir derzeit das Thema "Gottesbilder". Natürlich haben wir die verschiedenen Formen von Bildern, Abbildern, Symbolen und Zeichen behandelt, haben wir uns mit dem Bilderverbot und seinen unterschiedlichen konfessionellen und religiösen Ausprägungen auseinandergesetzt und nicht zuletzt den schönen und doch herausfordernden jesuanischen Gottesbildern/-vorstellungen viel Raum und Zeit geboten. Durch eine coronabedingte Zusammenlegung mit der evangelischen Lerngruppe bot sich nun auch noch die wunderbare Gelegenheit, multiperspektivisch das Thema zu betrachten.
Doch der Höhepunkt dieser Einheit stellt mich nun vor eine nicht unerhebliche Herausforderung. Denn wie umgehen mit dem schönsten und einprägsamsten Bild Gottes: dem Menschen. Die Bibel vermittelt ihren Lesern, dass alle Menschen Abbild Gottes, Königinnen und Könige, Mitschöpfer sind. Die Darstellungen in Kinderbibeln und den meisten anderen Bibelausgaben machen uns deutlich, dass es sich hierbei um Kandidaten für "Germany's next Topmodel" oder "Der Bachelor" handeln muss. Natürlich könnte ich warten, bis jemand aus der Klasse unweigerlich fragt, wie es sich mit "behinderten" Menschen verhält, um dann zu antworten: "Ja, die natürlich auch!" Aber beginnt mit diesem "auch" nicht schon genau die Trennung zwischen "denen" und "uns", die sowohl dem Gedanken von Inklusion als auch dem biblischen Menschenbild völlig widerspricht?
Jesus steht auf der Seite "der anderen"
Die amerikanische Pastorin und Buchautorin Nadia Bolz-Weber bringt es in ihrem Buch "Ich finde Gott in den Dingen, die mich wütend machen" auf den Punkt: "[…][D]as blöde ist, immer wenn wir eine Grenze zwischen uns und anderen ziehen, steht Jesus auf der anderen Seite." Es muss also anders gehen. Horst Klein und Monika Osberghaus haben ein hoch spannendes Kinderbuch herausgebracht mit dem vielsagenden Titel "Alle behindert! 25 spannende und bekannte Beeinträchtigungen in Wort und Bild." In diesem Buch werden fiktive Kinder, die aber reale Paten haben, mit unterschiedlichsten Beeinträchtigungen, mit ihrer ganzen Liebenswürdigkeit, ihren Vorzügen und Vorlieben, ihren Schwächen und ihren Leidenschaften vorgestellt. Das ist manchmal frech, aber immer voller Wertschätzung. Dieses Buch nun möchte ich meinen Schülerinnen und Schülern gerne als "Fotoalbum Gottes" vorstellen und sie die verschiedenen Abbilder Gottes mit viel Witz und Aufmerksamkeit kennenlernen lassen. Die letzte Seite des Buches ist ein Blankosteckbrief, der als "Mitmach-Level" angeboten wird, um den Hinweis vom Cover "Und Du kommst auch drin vor!" zu ermöglichen. Das Buch endet auf der Rückseite mit "Inklusion? Können wir schon!". Ich bin gespannt.
In meinem Oberstufenkurs ist derzeit das Halbjahr "Christologie" dran und damit die Frage nach Worten und Taten Jesu vor dem Hintergrund seiner Reich-Gottes-Botschaft. Hier hat es in den vergangenen Jahren viele neue und interessante Perspektiven und Ansätze in der Theologie gegeben. Auch die oben genannten Autoren der "Inklusiven Religionspädagogik der Vielfalt" haben mit Blick auf die Praxis Materialien und Konzepte für dieses Thema entwickelt. Trotzdem bleibt es eine Herausforderung, wenn man mit der Frage von inklusiver Religionsdidaktik oder besser gesagt mit der Frage von Inklusion im Religionsunterricht unmittelbar und persönlich konfrontiert wird.
Linktipp: Warum heilt Jesus Behinderte, wenn Gott sie so geschaffen hat?
Gott schuf die Menschen nach seinem Ebenbild. Trotzdem heilt Jesus neben Kranken auch Menschen mit Behinderung. Der Theologe Markus Schiefer Ferrari findet nicht, dass damit Inklusion gezeigt wird – findet sie aber an anderen Stellen in der Bibel.
Heilungswunder sind seit jeher ein zwiespältiges Thema im Religionsunterricht: Auf der einen Seite vermitteln sie in emotional wirksamen und von einfach Bildhaftigkeit geprägten Erzählungen eine Idee von der Wirkungsmacht Gottes in der Welt, auf der anderen Seite wirken sie besonders auf Schüler wie billige Zaubertricks und sind Anstoßpunkt kritischer und kritisierender Fragen. Das alles gerät in den Hintergrund, wenn im eigenen Unterricht tatsächlich Schüler mit lebenslangen mehr oder weniger schweren Beeinträchtigungen sitzen. Mit aller theologischen Tiefe und pädagogischen Finesse vermag man es nicht, die Zumutung solche Texte zu überspielen. (An dieser Stelle möchte ich meinen höchsten Respekt für all die Kolleginnen und Kollegen ausdrücken, die gar keine Zeit haben, so theoretisch darüber zu fabulieren, da sie tagtäglich mit solchen Fragestellungen im Unterricht umgehen müssen: also alle außerhalb des Gymnasiums!)
Inklusion ist nicht das richtige Wort
Die von Geburt an beeinträchtigte Theologin Nancy L. Eiesland schreibt dazu, dass sie auf den (wahrscheinlich gut gemeinten) Hinweis "Sorge dich nicht um deine Schmerzen und dein Leiden hier, im Himmel wirst du gesund gemacht werden." als Kind mit der Sorge reagierte "Als von Geburt an Behinderte begann ich zu glauben, dass ich mich im Himmel selbst nicht wiedererkennen würde und Gott mich vielleicht auch nicht." Diese lieb gewordenen Texte kommen an Grenzen, wenn ihre theologische Bildhaftigkeit an die biographische Realität von Beeinträchtigung trifft.
Und wenn ich nun beginnen würde, diese Schüler genau wie in der Klasse 8 als "auch" Geliebte in vermeintlichen Wohlwollen in die Gemeinschaft der Gläubigen hineinzuholen, würde ich wieder gezielt an der Idee von Inklusion vorbeischrammen. Nadia Bolz-Weber schreibt dazu: "Eigentlich ist Inklusion überhaupt nicht das richtige Wort, denn es hört sich so an, als würden wir, die wir ja so 'nett' und 'tugendhaft' sind, sie einladen, sich uns anzuschließen – so, als beurteilten wir eine andere Gruppe von Menschen der Inklusion in einem Zelt [Anmerk.: 'Zelt der Kirche'] für würdig, dass uns sowieso nicht gehört." "Solange ich mich nicht der Schwierigkeit dieser Frage stelle […] kann ich nur den scheinbar begrenzten Raum unter dem Zelt anschauen und denken, meine Aufgabe sei entweder, die Leute zu ändern, damit sie hineinpassen, oder das Dach zu erweitern, damit sie hineinpassen. Das eine ist so irre geleitet wie das andere, denn es ist ja gar nicht mein Zelt. Es ist Gottes Zelt."
Wie Menschwerdung gelingen kann
Und nun? Vielleicht muss ich auch hier einmal das Kinderbuch mitbringen, aber zumindest kann ich die Schwierigkeit dieser Frage, meine eigenen Fragen und vielleicht auch eine gewisse Sprachlosigkeit zum Thema machen, um gemeinsam mit den Schülern zu schauen, was mir, was diesem Kurs, was jungen Menschen mit und ohne Beeinträchtigung – oder sagen wir besser mit den verschiedensten Beeinträchtigungen – heute noch zu sagen hat.
Ja, Inklusion ist sicherlich eine Herausforderung. Aber vielleicht beginnt es einfach nur mit einem weiten Blick, einem neuen Blick, der eben nicht nur "die anderen", die Beeinträchtigten wahrnimmt, sondern wirklich einmal versucht, uns alle mit all unseren Beeinträchtigungen in und als Gemeinschaft in den Blick zu nehmen.
Und erlauben sie mir zum Abschluss noch eine etwas pathetische, der adventlich geprägten Zeit geschuldete Schlussbemerkung: Dann – und vielleicht sogar nur dann – kann Menschwerdung wirklich verstanden, gelingen und gefeiert werden.