Nach Missbrauchsvorwurf gegen Bischof: "Einen Plan B gibt es nicht"
Als Wolfgang Rothe das Gespräch zwischen Doris Reisinger und dem Wiener Kardinal Christoph Schönborn hört, geschieht etwas in ihm. Reisinger berichtete dem Kardinal, dass ihr jahrelang niemand glaubte, als sie von Erfahrungen geistlicher und sexualisierter Gewalt in der Gemeinschaft berichtete, der sie früher angehörte. "Ich glaube ihnen das, ja", hatte Schönborn zu Reisinger Anfang 2019 in einer Fernsehsendung des Bayerischen Rundfunks gesagt. Als Rothe das hört, merkt der Priester: Ihm geht es genau so. Er wirft dem emeritierten Bischof von St. Pölten, Klaus Küng, einen sexuellen Übergriff vor. Und auch ihm glaubt niemand.
Dabei geht es um einen Vorfall im Jahr 2004. Rothe war Subregens des Priesterseminars St. Pölten. Küng war erst Apostolischer Visitator, später Bischof des Bistums. Seine Aufgabe war es zunächst, Vorgänge im Priesterseminar aufzuklären, wo 2003 pornographisches Material, darunter auch Darstellungen sexualisierter Gewalt gegen Kinder, gefunden worden war. Ein Foto soll Rothe küssend mit einem anderen Mann zeigen; Rothe bestreitet das; ein unglücklicher Bildwinkel sei das gewesen. Strafrechtliche Vorwürfe gegen Rothe gibt es nicht, er tritt aber als Subregens zurück.
„Ich glaube Ihnen das, ja.“
Der Tag des von Rothe berichteten Übergriffs sei so verlaufen: Küng habe ihn einbestellt, um mit ihm die Ergebnisse der Visitation zu besprechen. Rothe habe einen Schwächeanfall erlitten. Küng, ein ausgebildeter Mediziner, der aber keine Zulassung als Arzt hat, habe ihm ein Medikament verabreicht. Rothe beschreibt, dass Küng ihm die Tablette in den Mund gesteckt und ihm ein Glas Wasser aufgenötigt habe, damit er es auch tatsächlich schluckt. Dann soll er ihn an Körperstellen gestreichelt haben, an denen man andere Menschen nicht ohne deren Einverständnis berühren darf. Rothe geht nach Hause, trinkt "ein großes Glas Wein", wie er sagt, um die Scham und den Ekel zu überwinden, und kommt erst im Krankenhaus wieder zu sich nach einem Sturz vom Balkon. Der Blutbefund der Untersuchung im Krankenhaus liege ihm noch vor: Ein Benzodiazepin, ein Psychopharmakum. Der ORF berichtet später, dass der Vorgang mehrfach von der Polizei untersucht wurde: direkt nach dem Geschehen, und später noch einmal, als wegen der Medikamentengabe Anzeige gegen Bischof Küng erstattet wurde. Konsequenzen hatten diese Untersuchungen keine: Wegen Verjährung wurde das Verfahren eingestellt.
"Klosterhaft" und "Schwulentest"
Rothe dagegen fiel in Ungnade; er berichtet von einem monatelangen angeordneten Aufenthalt in einem Kloster, in dem er weitgehend isoliert war. "Klosterhaft" ist das Wort, das er dafür verwendet. Er unterzieht sich auf Anweisung des Bischofs einem psychiatrisch-psychologischen "Schwulentest", der – ohne dass es irgendeinen Verdacht auf strafrechtlich relevantes Verhalten seinerseits gegeben hätte – seine Eignung für den Einsatz in der Seelsorge, insbesondere an Kindern und Jugendlichen, feststellen soll. Zwei Tage lang wird er in Essen von dem forensischen Psychiater Norbert Leygraf untersucht. Gegenüber der "Süddeutschen Zeitung" bezeichnete Harald Dreßing, ebenfalls forensischer Psychiater, die Fragestellung des Gutachtens als "eindeutig diskriminierend" und "ungeheurlich". Der Bischof habe versucht, ihn zur Aufgabe seines Priesteramts zu bewegen, Versuche der Versetzung in den Laienstand seien gescheitert. Der Sturz vom Balkon wird ihm Jahre später als Suizidalität ausgelegt, ein Weihehindernis sollte im Nachhinein konstruiert werden. Schließlich sollte er nach Rumänien versetzt werden, fernab von jeder Öffentlichkeit. "Bischof Küng wollte mich gefügig machen", sagt Rothe, und: "Heute würde ich mir das nicht mehr bieten lassen."
Das alles schildert der Priester heute sehr deutlich. Damals hatte er von den Vorwürfen gegen Bischof Küng niemandem erzählt. "Ich war überzeugt: Das glaubt mir keiner." Zum Reden sah sich Rothe erst viel später in der Lage; mittlerweile ist er, immer noch St. Pöltener Diözesanpriester, im Erzbistum München und Freising als Pfarrvikar tätig. Bekannt ist er vor allem durch seine Publikationen zum Thema Whisky. Als "Whisky-Vikar" schreibt er Bücher, organisiert Reisen nach Schottland, schreibt Artikel über Whisky und hat einen YouTube-Videoblog. Über die St. Pöltener Zeit spricht er kaum. Diese Vergangenheit holt ihn aber 2019 mit dem Gespräch zwischen Reisinger und Schönborn wieder ein. "Erst nachdem ich das gesehen hatte, konnte ich reden", berichtet er im Gespräch mit katholisch.de.
Im selben Jahr regelte Papst Franziskus den Umgang mit Verdachtsfällen sexualisierter Gewalt von Klerikern und Ordensleuten neu. Im Motu Proprio "Vos estis lux mundi" ("Ihr seid das Licht der Welt") wurden verschärfte Meldepflichten für Bischöfe eingeführt. Rothe, der promovierte Kirchenrechtler, wandte sich an Kardinal Schönborn, der als Erzbischof von Wien der Kirchenprovinz vorsteht, zu der auch St. Pölten gehört. "Monatelang passierte nichts", berichtet Rothe, "dabei hätte Schönborn die Anzeige unverzüglich nach Rom weiterleiten müssen." Gegenüber dem ORF betonte das Erzbistum Wien später, dass die Meldung nach Rom unverzüglich erfolgt sei. Rothe schickt seine Beschwerde selbst nach Rom. Anfang 2020 tauchte der Vorgang plötzlich in österreichischen Medien auf. "Ohne mein Zutun", versichert Rothe. Der Nachfolger Küngs, Bischof Alois Schwarz, und seine Pressestelle ließen die Vorwürfe zurückweisen. Aufgrund von Unglaubwürdigkeit der Quellen sei der Vorwurf nicht weiter verfolgt worden. Das sah auch der Vatikan so, das Bistum teilte im September 2020 mit, dass der Vatikan die Vorwürfe nach "eingehendem Studium" als haltlos einstufe; ein juristisches Verfahren wurde erst gar nicht eingeleitet. "Für Bischof Küng, der die Vorwürfe immer auf das Schärfste zurückgewiesen hatte, ist der Fall mit der Entscheidung Roms erledigt", heißt es in der Pressemitteilung.
Rom stellte das Verfahren ein, das Bistum droht mit Sanktionen
Was nicht in der Mitteilung stand: Rothe erhielt eine "kanonische Verwarnung", die Vorstufe zur Suspendierung. Immer noch ist der Bischof von St. Pölten für ihn zuständig, auch wenn er kaum mehr Kontakt mit seinem Bistum hat. Von der kanonischen Verwarnung hat die Öffentlichkeit erst in diesem Jahr erfahren; zwei Artikel in der Süddeutschen Zeitung schildern den Fall Rothes ausführlich. Der Journalist der Süddeutschen, Bernd Kastner, sei im Juli 2020 auf Rothe zugekommen, nachdem Anfang des Jahres Details über den Fall in österreichischen Medien aufgetaucht waren. Nach Einstellung des kanonischen Verfahrens war Rothe ratlos, wie es weitergehen sollte. Dem Journalisten, der ihm den Weg in die Öffentlichkeit ermöglichte, ist er dankbar: Erst hatte er nicht gewollt, dass er mit vollem Namen in der Zeitung auftaucht, hatte auf eine Anonymisierung gedrängt. Doch Kastner überzeugte ihn: Solche gewichtigen Vorwürfe könnten nur mit Nennung des Namens berichtet werden. Jetzt ist sich Rothe sicher: Das war die richtige Entscheidung. Kirchlicherseits ist niemand auf ihn zugegangen; keiner der zuständigen kirchlichen Amtsträger hat ihm gesagt, dass sie ihm glauben, bis heute. Außer der Öffentlichkeit hat Rothe nichts, jetzt geht er offen auf Medien zu. Seine Gemeinde reagierte mit Unterstützung auf den Artikel; auch online, wo Rothe auf Twitter und Facebook mit vielen Menschen vernetzt ist, hat er, so sagt er, fast ausschließlich positive Reaktionen erhalten.
Wie es nun für Rothe weitergeht, weiß er selbst nicht: "Ich rechne mit allem." Er ist gern Priester und möchte das auch weiterhin bleiben. "Einen Plan B habe ich nicht", sagt er. Dennoch will er sich weiter treu bleiben: "Es gibt Situationen im Leben, da muss man alles in die Waagschale werfen."
Ergänzung, 3. März 2021: Die Aussage zur Einstellung des Verfahrens wurde präzisiert.