Liturgiewissenschaftler Benedikt Kranemann im Interview

Hoffnung anbieten: Die Rolle der Kirche bei der Trauer um Corona-Tote

Veröffentlicht am 25.01.2021 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Erfurt ‐ Zehntausende Tote – doch wie trauert die Gesellschaft um sie? Die Opfer der Corona-Pandemie scheinen hinter den Statistiken unterzugehen. Der Liturgiewissenschaftler Benedikt Kranemann sieht die Aufgabe der Christen darin, an sie zu erinnern. Wie das gelingen kann, erklärt er im katholisch.de-Interview.

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Täglich sterben Hunderte von Menschen an den Folgen von Corona-Infektionen – doch das große Trauern bleibt aus: Während Menschen allein um ihre Angehörigen trauern, werden die Toten in den Nachrichten zu kalten Statistiken. Dem will beispielsweise der Bundespräsident mit der Aktion #lichtfenster begegnen. Auch die Kirche hat viel Erfahrung mit öffentlichem Trauern, aber in einer immer länger dauernden Pandemie steht sie wie der Rest der Gesellschaft vor einer bisher unbekannten Situation. Kann die Kirche aus ihrer jahrtausendealten Tradition etwas für die Trauer heute lernen – und wie kann sie heute helfen, der Toten zu gedenken und die Trauernden zu trösten? Der Erfurter Liturgiewissenschaftler Benedikt Kranemann sieht hier eine große Aufgabe für die Kirche.

Frage: Professor Kranemann, täglich sterben in Deutschland so viele Menschen an der Pandemie, als seien mehrere Flugzeuge abgestürzt – aber Trauer und Entsetzen darüber scheint es in der Gesellschaft nicht zu geben. Fehlt uns das?

Kranemann: Es besteht die Gefahr, abzustumpfen. Wir haben uns daran gewöhnt, jeden Tag von an die Tausend neuen Toten zu hören. Das wird dann zu einem reinen Zahlenspiel. Es gehört aber zur Humanität, auch an die Menschen hinter diesen Zahlen zu denken, und das ist eine Aufgabe für Christen: diesen humanen Grundzug in der Gesellschaft zu pflegen und weiterzuentwickeln. Dabei kommt es auch nicht darauf an, ob andere darauf warten: Dass man der Toten gedenkt und sie nicht dem Vergessen anheim gibt, gehört zum christlichen Selbstverständnis.

Professor Dr. Benedikt Kranemann
Bild: ©KNA (Archivbild)

Benedikt Kranemann ist seit 1998 Professor für Liturgiewissenschaft an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Erfurt. Im Auftrag der Liturgiekommission der Deutschen Bischofskonferenz gehörte er zu den Autoren der Arbeitshilfe "Trauerfeiern und Gottesdienste nach Katastrophen".

Frage: Nach Katastrophen gibt es öffentliche Trauerfeiern. Während einer andauernden Pandemie ist das schwierig. Was bedeutet das für die Gesellschaft?

Kranemann: Es ist ein Problem für die Gesellschaft, dass wir bislang keine Trauerfeiern haben, bei denen die Gesellschaft als Ganze innehalten, sich neu als Gemeinschaft verstehen und erfahren kann. Auch für die einzelnen Trauernden fehlt dann etwas, wenn es diesen Ort für ihre Trauer nicht gibt. Aber die Situation ist gerade anders: Bei einem Flugzeugabsturz oder einer Naturkatastrophe gibt es ein klares Ende. Die Katastrophe ist geschehen, man kann darauf zurückblicken. Das ist jetzt nicht möglich. Die Pandemie läuft weiter, und das macht es schwer, abzusehen, wann eine zentrale Trauerfeier stattfinden könnte. Aber ich meine doch, dass es sie geben sollte – für solche Feiern gibt es auch bereits Konzepte.

Frage: Warum zentral und nicht dezentral, wenn doch überall Menschen sterben?

Kranemann: Es gibt schon viele dezentrale Initiativen. Aber ähnlich wie bei Großkatastrophen wäre es hilfreich, wenn das Land als Ganzes still stehen, zur Ruhe kommen, sich besinnen könnte auf das, was geschehen ist. Die Gesellschaft könnte sich auf die Toten, die Leidenden und die Geschädigten konzentrieren und mit ihnen Solidarität zeigen. Das ist aber nicht möglich, wenn die Pandemie noch im Gang ist: Es ist schwer, rückblickend aller Toten zu gedenken, wenn immer noch Menschen an COVID-19 leiden und sterben, aber bei dieser Feier außen vor gelassen würden.

Frage: Die Kirche hat Erfahrung mit andauernden Katastrophen: Sie hat die Spanische Grippe und die Pest erlebt, das ganze Barock spielt sich vor dem Hintergrund der Verheerungen des Dreißigjährigen Kriegs ab. Was können wir aus diesen historischen Ereignissen lernen?

Kranemann: Das ist gar nicht so einfach, schon weil es teilweise wenig erforscht ist: Zur Seelsorge während der Spanischen Grippe fehlen kirchenhistorische und speziell liturgiegeschichtliche Forschungen. Die Kirche hat aber natürlich sehr viel Erfahrung mit Totengedenken und ein großes rituelles Repertoire: Gottesdienste, Andachten, Prozessionen, Kerzen, Weihrauch und vieles mehr. Hier in Erfurt hat man beispielsweise auf die bis ins Mittelalter zurückreichende Tradition des Totenbuchs zurückgegriffen: An jedem ersten Freitag im Monat wird der Toten gedacht, die Namen der Verstorbenen können in ein Buch eingetragen werden, das in der Kirche bleibt, die so zu einem Ort des Gedenkens wird. Die Toten sind präsent in einem öffentlichen Raum. Das spricht Menschen unterschiedlicher Konfessionen und Religionen, aber auch Konfessionslose an. Christen müssen Formen finden, die nicht nur Christen ansprechen, sondern auch in eine plurale Gesellschaft hineinwirken.

Frage: Was erwarten die Menschen heute? Auf Erlösung scheinen heute wenige zu hoffen. Was hat die Kirche heute stattdessen anzubieten?

Kranemann: Ich sehe einen Auftrag für die Kirche darin, das was an Hoffnungspotenzial im christlichen Glauben liegt, der Gesellschaft anzubieten: zu zeigen, an was für einen Gott Christen glauben, davon zu erzählen und das im Ritual darzustellen.

Papst Franziskus spendet auf einem menschenleeren Petersplatz den Segen Urbi et Orbi.
Bild: ©picture alliance/Pressebildagentur ULMER (Archivbild)

Papst Franziskus spendet auf einem menschenleeren Petersplatz den Segen Urbi et Orbi.

Frage: Eine vielbeachtete Form war der Urbi-et-orbi-Segen des Papstes auf einem menschenleeren Petersplatz. Was kann man daraus lernen?

Kranemann: Es ist nicht der große Gestus, es ist die schlichte einfache Feier, die gesucht wird. Gerade in der Reduziertheit wirkte diese Feier: Der halbdunkle Abend, das diesige Wetter, der Papst fast allein, und dann gibt es einen einfachen Wortgottesdienst: dieser Moment auf dem Platz, das Hören, das Sprechen, das Solidarisch-Sein. Das sind schlichte Formen, die Vorbild sein können. Als der Papst danach in den gleißenden Petersdom einzog, war das fast schon zu viel Gegensatz.

Frage: Der barocke Petersdom steht aber auch für ein theologisches Programm der Hoffnung. Warum steht heute Schlichtheit an und im Barock die Pracht himmlischer Verheißung? Haben wir uns in der Pandemie nicht ein wenig Glanz verdient?

Kranemann: Die Kultur in der Barockzeit war eine andere mit einer anderen Zeichensprache. Diese Kirchenräume faszinieren uns immer noch, aber sie kommen eben aus einer völlig anderen Zeit. Die Kirche war damals nach allem, was wir wissen, den Menschen sehr nah: Man hat den Nerv der Menschen getroffen. Heute fragen wir uns, wie man Geld für so gigantische Kirchenbauten verschwenden kann. Aber es gibt eine Reihe von Untersuchungen, die feststellen, dass die Menschen damals Erlösung und Trost genau so suchten. Darauf reagierte man in der Seelsorgepraxis, in der Liturgie und in der religiösen Kunst. Heute ist die Kirche aber in einer anderen Situation: Eine barock auftretende Kirche ist das Letzte, was wir jetzt brauchen. Die Kirche steht in vielfacher Hinsicht gebrochen und schuldig dar. Wenn sie in der jetzigen Situation hilfreich für die Menschen sein will, dann kann sie das nur sein, wenn sie nah bei den Leidenden und Trauernden ist. Da wäre jeder barocke Gestus, alles Triumphalistische, das dazu gehört, unpassend. Das verbietet sich geradezu!

Frage: Zum Barock gehören nicht nur Gold und Putten, sondern auch die Öffnung zum Himmel hin, dieser Überschlag von Leid hören zum Hoffnung zeigen. Wo kommt heute diese Hoffnung her?

Kranemann: Die Hoffnung kommt u. a. durch biblische Verkündigung und durch Gebet zum Ausdruck, bei denen deutlich wird, dass es Menschen gibt, die Gott als einen personalen Gott ansprechen, vor den sie mit ihrem Leid und ihrer Klage treten können. Dafür braucht es rituelle Räume. In den Psalmen finden wir jahrtausendealte Texte, die uns eine Sprache für Klage zur Verfügung stellen, ohne gleich alles erklären zu wollen. Ich bin strikt gegen Formen der Trauer, in denen zu viel erklärt, zu viel gedeutet wird. In der jetzigen Situation sind Orte der Stille und Gebetsangebote erforderlich. Die Kirche wäre zudem gut beraten, Menschen einfach zuzuhören – das gehört nämlich auch zum Klagen: dass jemand das Klagen und das, was mich bedrückt, hört. Dass das fehlt, wird übrigens immer wieder mit Blick auf die katholische Begräbnisliturgie angemahnt.

In der Düsseldorfer Dominikanerkirche hängt ein großes Banner mit einer schwarzen Trauerschleife als Ausdruck der Solidarität mit den Opfern der Corona-Pandemie und ihren Angehörigen.
Bild: ©privat/Thomas Möller (Archivbild)

In der Düsseldorfer Dominikanerkirche hängt ein großes Banner mit einer schwarzen Trauerschleife als Ausdruck der Solidarität mit den Opfern der Corona-Pandemie und ihren Angehörigen.

Frage: Und dann? Welche Hoffnung folgt auf die Klage?

Kranemann: Das ganze Ausdrucksrepertoire der Liturgie bleibt nicht bei der Klage stehen. Klage im christlichen Kontext zeigt an, dass es etwas anderes als Krankheit, Leid und Tod gibt, was dem Menschen verheißen wird, dass aber die Wirklichkeit quer dazu steht. Der Mensch klagt vor Gott, aber er klagt vor Gott als gläubiger Mensch, weil er hofft, dass von Gott her anderes verheißen ist – biblisch gesprochen: Leben in Fülle. Dieses Defizit, diese Mangelerfahrung, diese Katastrophe wird ins Wort– und in den Ritus gebracht. Elemente wie Weihrauch sind Zeichen, die auf ganz einfache Art zum Ausdruck bringen: Die Bitte geht – bildlich gesprochen – in den offenen Himmel. Für den Menschen ist in allem Fragen etwas offen, was letztlich Geheimnis bleibt – aber es gibt dennoch Hoffnung in dieser Situation.

Von Felix Neumann