Zwischen Tod und Transzendenz: Die Kreuzigung in der Kunstgeschichte
Es steht auf Kirchtürmen, bildet das Zentrum von Bistumslogos und geht jeder Prozession voran: Das Kreuz ist das universelle Zeichen des Christentums. Es verdeutlicht die Botschaft des gekreuzigten und wieder auferstandenen Christus. In den vom Christentum geprägten europäischen Gesellschaften hat es auch in der Kunstgeschichte seine Spuren hinterlassen: Die Kreuzigungsszene wurde oft dargestellt, jede Epoche lud sie mit den je eigenen spirituellen Sichtweisen und Schwerpunkten auf. An ein paar ausgewählten Beispielen der europäischen Kunst lassen sich diese ganz verschiedenen Interpretationen der Kreuzigungsszene erkennen.
Eine kleine Einleitung: Das Kreuz als Symbol des Christentums
So selbstverständlich wir das Kreuz heute als Symbol des Christentums erkennen, war es das für die ersten Christen keineswegs. Die Kreuzigung war in der Antike die erniedrigendste Form der Todesstrafe, vorgesehen für Verbrecher. In diesen Kontext wollte man den Gottessohn nicht setzen. Symbole des Christentums sind damals der Fisch sowie das Christusmonogram aus den griechischen Anfangsbuchstaben Chi und Rho (auf Lateinisch also "Chr"). Erst mit der Erhebung des Christentums zur römischen Staatsreligion Ende des vierten Jahrhunderts, der angeblichen Auffindung des Kreuzes durch die Kaisermutter Helena sowie der Abschaffung der Kreuzigung als Todesstrafe gut hundert Jahre später wendet sich das Blatt. Das Kreuz etabliert sich nach und nach als christliches Symbol des Sieges über den Tod, allerdings meist ohne den Gekreuzigten. Christus wird als triumphierender Weltenherrscher neben dem Kreuz dargestellt. Diese Darstellung als Sterbender am Kreuz verbreitet sich erst im Mittelalter.
Gerokreuz (vor 976)
Selbst nach über 1000 Jahren beeindruckt das Gerokreuz Besucher des Kölner Doms noch immer. 2,88 Meter hoch, seit 1683 mit einem Strahlenkranz umgeben, steht einer der ältesten erhaltenen Großkruzifixe nördlich der Alpen für eine Wende in der Kunstgeschichte: Christus erscheint hier nicht als strahlender Sieger über den Tod – sondern als Sterbender. In Kreuzesdarstellungen zuvor schwebte Jesus mehr am Kreuz, als dass er daran hing. Hier erscheint er nun in seiner Körperlichkeit als toter menschlicher Körper. Wie kam es zu dieser Veränderung des künstlerischen Blicks? Es kann durchaus sein, dass hier die vom Kloster Cluny in Burgund angestoßenen Reformen eine Rolle spielten. Ziel dieser Reformen war eine Stärkung der individuellen Frömmigkeit und gleichzeitig eine Mahnung an die Vergänglichkeit des Menschen. Der Gekreuzigte rückte deshalb ins Zentrum. Daraus ließe sich der körperliche, aber dennoch meditative Charakter des Kreuzes erklären. In der Zeit ab der Jahrtausendwende entstanden zahlreiche große Kruzifixdarstellungen. Inwieweit sie vom Kölner Gerokreuz inspiriert wurden, ist in der Forschung umstritten.
Matthias Grünewald: Isenheimer Altar (1512-1515)
Ein großer zeitlicher Sprung – und eine andere Funktion des Kreuzigungsbildes: Matthias Grünewald malte den Isenheimer Altar für das dortige Antoniterkloster. Der Orden widmete sich vor allem der Krankenpflege, der Altar stand in der Spitalkirche. Christus ist hier nicht nur als Sterbender, sondern dezidiert als Leidender zu sehen. Besonders bekannt sind die schmerzverrenkten Finger seiner beiden Hände. In der damaligen Zeit hatte das einen alltäglichen Hintergrund. Es ging eine durch einen Roggenpilz verursachte Vergiftung um, durch die die Betroffenen unter sehr starken Schmerzen und Krämpfen litten. Diese Leiden spiegelt der Christus wider. Kranke wurden zum Teil vor das Bild gelegt, in der Hoffnung, dass ihre Beschwerden dadurch geheilt würden. Grünewalds Altar nimmt also die Leiden der Kranken nicht nur auf, sondern soll auch zur Heilung beitragen. Das Tafelgemälde steht zudem für eine veränderte Frömmigkeit dieser Zeit: Die individuelle Betroffenheit rückt stärker in den Fokus. Es entstehen einige Werke, in denen der leidende Christus die Betrachter direkt anschaut und sie so in diese Emotionen hineinziehen möchte.
Rembrandt van Rijn: Die drei Kreuze (1653)
Gleiches Motiv, 100 Jahre später: Rembrandt gewinnt der Kreuzigungsszene in einer seiner bekanntesten Radierungen noch einmal eine völlig neue Facette ab: Wie viele Barockkünstler arbeitet er mit dramatischen, an Theaterkulissen erinnernden Bildaufbauten und ebenso dramatischen Lichteffekten. Mit diesem Licht schafft er es hier, auf einem einzelnen schwarz-weißen Blatt eine Geschichte zu erzählen: Der Mensch Jesus Christus wird gekreuzigt und stirbt - doch gleichzeitig reißt der Himmel auf und ein helles Licht fällt auf die Kreuzigung. Das menschliche Leiden und die Transzendenz treffen hier also unmittelbar aufeinander. Gerade durch den Kontrast der sterbenden verurteilten, der zum Teil unbekümmerten Zuschauer und des strahlenden Lichts erzielt das Bild seine Wirkung. In einer vorigen Version der Radierung ereilte die die Szene umstehenden Menschen noch ein plötzlich einsetzendes Gewitter – vielleicht eine Konzession an eine Gegenwart, die von Kriegen und einem neuen, körperlichen Bewusstsein der Vergänglichkeit geprägt war. Später überarbeitete Rembrandt das Blatt jedoch zu der Szene, wie sie hier zu sehen ist.
Caspar David Friedrich: Der Tetschener Altar (1808)
Das 19. Jahrhundert wartet mit einem großen Umbruch auf: Durch die Französische Revolution werden Kirchen- und Glaubensstrukturen zerstört, die Spiritualität löst sich von der verfassten Religion. Ein gutes Beispiel dafür ist der Tetschener Altar von Caspar David Friedrich. Das Kreuz ist hier in eine dramatisch beleuchtete Landschaft eingebettet. Die mystische Wirkung ist leicht erkennbar – doch das Kreuz nimmt darin einen anderen Stellenwert ein als noch bei Rembrandt. Es ist nur noch ein Teil einer geheimnisumwitterten Natur, in der sich die Weltseele offenbart – es steht nicht mehr unumstritten im Zentrum des Geschehens. Das zeigt sich auch an der Lichtführung: Das Licht kommt von der anderen Seite des Bergs, nicht vom Kreuz her. Friedrich zeigt hier also durchaus eine Gotteserfahrung, die auch aber nicht aus dem Kreuz allein, sondern aus dem Zusammenspiel des Christuszeichens mit der Natur entsteht.
Marc Chagall: Weiße Kreuzigung (1938)
Hat sich auch Caspar David Friedrich schon nicht mehr nur damit begnügt, das Kreuz lediglich darzustellen, gibt Marc Chagall der Kreuzigung einen völlig neuen Kontext: Er zeigt brennende Häuser und eine Synagoge in Flammen um den sterbenden Jesus herum. Leicht als Juden zu erkennende Menschen rennen schreiend und voller Angst umher. Ein Blick auf das Entstehungsjahr erklärt das Geschehen: Das Bild entstand nach den Eindrücken der Pogrome gegen Juden 1938. Chagall – selbst aus einer jüdischen Familie – malt Jesus nicht als Messias, sondern als einen nicht zuletzt durch den Gebetsschal erkennbaren Juden, der das Leid der Juden und die Zerstörung ihrer Leben und Kultur miterlebt. Aus einem gegeneinander der beiden Glaubensrichtungen formt er also ein Miteinander. Der Menorah steht zu Füßen des Kreuzes. Im Gegensatz zu zahlreichen anderen Werken Chagalls, die vor allem durch viele kräftige Farben bestechen, kommt die "Weiße Kreuzigung" beinahe monochrom daher. Die Dramatik der Szene schöpft sich aus den Figuren. Wieder spielt das Licht eine Rolle, doch beleuchtet der Schein aus dem Himmel kein transzendentes Ereignis, sondern das fahle, fast scheinwerferhafte Licht fällt auf den Tod. Dieses kraftvolle Bild begeistert seit Jahrzehnten Menschen – unter anderem ist es das Lieblingsbild von Papst Franziskus.
Otto Dix: Große Kreuzaufrichtung (1962)
Wiederum unter der Überschrift "Verheutigung" lässt sich die "Große Kreuzaufrichtung" von Otto Dix lesen. Im Hintergrund ist die Silhouette einer von Hochhäusern geprägten Großstadt sichtbar, das Kreuz wird von einem Mann in Unterhemd, kurzen Hosen und Zylinder hochgezogen. Dix war stets ein sozial denkender Künstler, er porträtierte die Abgründe der "Goldenen Zwanziger" ebenso wie das Leid des Krieges. In diesem Bild aus den letzten Jahren seines Lebens wirft er angesichts des Kreuzes wiederum einen kritischen Blick auf die Gesellschaft seiner Zeit: Der Mann links trägt zwar einen Zylinder, doch angesichts der restlichen Kleidung wirkt der bizarr – das Bürgertum ist nur Fassade. Möglich, dass der unter den Nationalsozialisten als Professor entlassene Dix hier auf die brachialen Dynamiken anspielt, die sich auch nach der Nazizeit erhalten haben: Es braucht nicht viel, bis aus dem Zylinderträger wieder der Schläger wird, der Christus wieder kreuzigen würde.