Jesuit Kiechle: Kirche muss besser lernen, darüber zu sprechen

Warum Machtmissbrauch gegen Männer immer noch ein Tabuthema ist

Veröffentlicht am 19.02.2021 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Bonn ‐ Über Machtmissbrauch gegen Männer in der Kirche wird öffentlich bislang kaum diskutiert. Doch immer mehr Betroffene berichten von ihren Erlebnissen. Der Jesuit Stefan Kiechle spricht im katholisch.de-Interview über Präventionsmaßnahmen – und erklärt, warum das Thema erst jetzt in den Fokus rückt.

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"Die betroffenen Männer warten schon viel zu lange darauf, dass ihr Leiden in der Kirche Gehör findet", heißt es in der Ankündigung: An diesem Freitag findet eine digitale Tagung der Kirchlichen Arbeitsstelle Männerseelsorge der Deutschen Bischofskonferenz zu einem Thema statt, das bisher weitgehend unbeachtet blieb – Machtmissbrauch in der Kirche gegen Männer. Bei der Online-Veranstaltung, die als Auftakt eines Aufarbeitungsprozesses gedacht ist, sollen Betroffene zu Wort kommen und das Problem aus mehreren Perspektiven beleuchtet werden. Einer der Fachreferenten ist der Jesuit Stefan Kiechle, ehemaliger Provinzial der Deutschen Ordensprovinz und Chefredakteur der Zeitschrift "Stimmen der Zeit". Kiechle beschäftigt sich besonders seit der Aufdeckung des kirchlichen Missbrauchsskandals vor rund zehn Jahren mit der Verbindung zwischen Macht und Missbrauch. Katholisch.de hat im Vorfeld der Tagung mit ihm gesprochen.

Frage: Pater Kiechle, in der katholischen Kirche werden alle wichtigen Positionen von Männern bekleidet. Inwiefern kann sich da der Missbrauch von Macht auch gegen Männer richten?

Kiechle: In dieser "Männergesellschaft", einem durchaus männerbündischen Miteinander, gibt es Hierarchien. Da kann es vorkommen, dass Männer, die Macht über andere Männer haben oder sich verschaffen, diese missbrauchen. Dass Männer Frauen ausnutzen oder missbrauchen, kann man sich vielleicht leichter vorstellen. Aber auch Männern kann es so ergehen, selbst wenn das bisher wenig bekannt ist.

Frage: Die Kirche spricht schon seit Jahren über Machtmissbrauch, spätestens seit der MHG-Studie ist das Thema in aller Munde. Warum ist der Machtmissbrauch gegenüber Männern bislang eher ein Randthema und rückt erst langsam in den Fokus?

Kiechle: Als vor gut zehn Jahren der Missbrauch von Minderjährigen bekannt wurde, war den meisten, die sich damit befasst haben, klar, dass das etwas mit Macht und deren Missbrauch zu tun hat. Deshalb hat man begonnen, sich intensiv auch mit dem Thema Macht zu beschäftigen. Später kam dann die Frage nach dem Missbrauch geistlicher Macht dazu. Und nach und nach zeigt sich, dass eben nicht nur Minderjährige, sondern auch erwachsene Frauen und Männer von Machtmissbrauch betroffen sind. Derzeit melden sich vermehrt erwachsene Männer. Das Ausmaß wird man erst nach und nach wahrnehmen können.

Frage: Das Thema scheint ein großes Tabu zu sein, wenn sich viele Männer erst jetzt langsam melden. Warum ist das so?

Kiechle: Ein Grund dafür könnte sein, dass Männer noch weniger als andere eingestehen möchten, dass sie "schwach" waren und sich missbrauchen ließen. Wenn jemand von Missbrauch betroffen ist, geht das oftmals mit Schuldgefühlen und mit viel Scham einher. Viele Betroffene brauchen lange, um darüber reden zu können. Von minderjährig Betroffenen weiß man, dass es bisweilen Jahrzehnte dauert, bis sie es schaffen, über ihre Erlebnisse zu sprechen. Ich kann mir vorstellen, dass auch erwachsene Männer sehr viel Zeit brauchen.

Bild: ©Jesuiten

Pater Stefan Kiechle SJ beschäftigt sich seit mehreren Jahren mit dem Thema Machtmissbrauch in der Kirche.

Frage: Hat das damit zu tun, dass man in einer "Männerkirche" Männer nicht in der Opferrolle sieht?

Kiechle: Das sicher auch. Männer sieht man eher als diejenigen, die Führungsaufgaben haben und Macht ausüben – und damit eher in der Täterrolle. Dabei vergisst man aber jene, die keine Macht haben und daher leicht Opfer von Missbrauch werden können.

Frage: Wo beginnt Machtmissbrauch gegen Männer?

Kiechle: In Gemeinschaften mit einem Gehorsamsgelübde kann er beginnen, also in Konventen oder geistlichen Gemeinschaften: Obere können dieses dazu nutzen, andere Männer zu manipulieren oder sie zu etwas drängen, was diese selbst nicht wollen. Ähnliches gilt für fast alle anderen kirchlichen Einrichtungen. Oft fängt Missbrauch ganz subtil und in kleinem Maß an. Und dann kann er sich ausweiten.

Frage: Zu welchen Formen kann es sich steigern?

Kiechle: Eine Form ist, psychische Abhängigkeit zu schaffen. Oder ein Vorgesetzter verteilt Privilegien – und um diese zu bekommen, muss man sich einschmeicheln oder sich unterwerfen und anpassen. Dann gibt es auch den geistlichen Missbrauch: Wenn man jemanden, der spirituell auf der Suche ist, in eine Richtung treibt, die nur anderen nützt, ihm jedoch nicht. Auch kann es bei Männern finanzielle Ausbeutung oder Ausbeutung von Arbeitskraft geben.

Frage: Kann das auch in sexuellem Missbrauch gipfeln?

Kiechle: Auch das gibt es, aber wie viele Fälle dies sind, weiß niemand. Da ist vieles noch verborgen. Ich vermute jedoch, dass der psychische oder spirituelle Missbrauch die häufigere Form von Missbrauch gegen erwachsene Männer in der Kirche ist. Aber es gibt noch keine Untersuchungen dazu und daher keine Zahlen.

„Männer sieht man eher als diejenigen, die Führungsaufgaben haben und Macht ausüben – und damit eher in der Täterrolle. Dabei vergisst man aber jene, die keine Macht haben und daher leicht Opfer von Missbrauch werden können.“

—  Zitat: P. Stefan Kiechle SJ

Frage: Trauen Sie sich trotz des Fehlens von empirischen Daten eine Einschätzung zu, welcher Personenkreis am meisten vom Machtmissbrauch gegen Männer betroffen ist?

Kiechle: Ich glaube schon, dass "geschlossene" Einrichtungen, in denen jemand einen intensiven geistlichen Weg gehen will, dafür besonders anfällig sind. Ich denke da angeistliche Bewegungen, vor allem an solche, die unter einer engen und strengen Führung stehen. Dann auch an Orden und Klöster, aber auch an Priesterseminare. Aber natürlich kann es solche Fälle auch in Schulen, Gemeinden und so weiter geben.

Frage: Bischof Heiner Wilmer hat 2018 in einem Interview gesagt, der Missbrauch von Macht stecke in der DNA der Kirche. Steckt hinter dem Machtmissbrauch an Männern also ein strukturelles Problem?

Kiechle: Die Formel mit der DNA würde ich eher nicht verwenden, weil es ja nicht um "Biologisches" geht, sondern um Sozialverhalten, das durchaus steuerbar ist. Aber wenn Sie nach strukturellen Ursachen fragen: Es gibt wenig Machttransparenz und wenig Machtkontrolle in der Kirche – und das in einem sehr patriarchalischen und hierarchischen System. Wer schaut bei Führungskräften hin, wie sie agieren? Wo gibt es da wirkliche Überprüfungen – das Kirchenrecht sieht Visitationen vor? Wie ernst werden diese genommen? Gibt es Beschwerdestellen, eine unabhängige Justiz? Im Sinne von Machtkontrolle oder Machtpartizipation kann strukturell sicher einiges verbessert werden. Aber es kommt natürlich auch auf das persönliche Verhalten an. Angefragt ist etwa die Ausbildung in Priesterseminaren, in Ordenshäusern, in der Seelsorge: dass die nächste Generation sensibler wird für das Thema und bei sich selbst oder anderen Fehlverhalten wahrnimmt und dagegen angeht.

Frage: Wo kann man noch ansetzen, um Formen des Machtmissbrauchs zu verhindern?

Kiechle: Das wichtigste wäre, besser über diese Themen sprechen zu lernen. Das gilt für alle Formen von Missbrauch. Wir müssen eine andere Sprachkultur entwickeln und einüben. Danach kommen natürlich Dinge wie entsprechende Ausbildung und Prävention. Aber gerade bei Führungskräften muss es Kontrolle und Machtteilung geben, damit es auch eine soziale Kontrolle gibt.

Frage: Es gibt seit kurzem eine Meldestelle der Deutschen Bischofskonferenz für Frauen, die Gewalt in der Kirche erlebt haben. Wird es so etwas auch für Männer geben?

Kiechle: Diese Anlaufstelle ist aus einem großen Treffen von Frauen entstanden, die von Missbrauch in der Kirche betroffen waren. Unsere jetzige Tagung ist der Versuch, ein Auftakttreffen für Männer zu machen – auch wenn es leider wegen Corona nur online stattfinden kann. Wenn Missbrauch gegen Männer in der Kirche tatsächlich weit verbreitet ist, dann wird eine solche Anlaufstelle sicher eine Option sein. Wir setzen jetzt erst mal bewusst einen Start, um das Thema zu enttabuisieren. Es soll in die Öffentlichkeit kommen, und wir wollen Betroffene zum Sprechen ermutigen, damit eine Aufarbeitung beginnen kann.

Von Matthias Altmann