Reli – das Fach vom Hören und Gehörtwerden
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Als Referendar hatte ich es mir einmal zur Aufgabe gemacht, meine Fächer auf eine Formel zu bringen. Bei Deutsch war das einfach: Deutsch, das Fach vom Verstehen und Sich-verständlich-machen. Da war alles drin, Literatur und Sprache, Kommunikation und Medien. Und danach konnte ich meinen Unterricht ausrichten: Ermögliche ich das den Kindern, den Jugendlichen: verstehen, sich verständlich machen? Oder habe ich es eventuell verhindert mit dem, was ich in den Stunden angeboten habe? Merke: Lehrerhandeln kann den Unterricht stören ...
Und Religion? Das fiel mir viel schwerer. So ziemlich alles, was mir in den Sinn kam, musste ich wieder verwerfen, vor allem weil mir der zweite Teil einer solchen Faustformel so unzugänglich war. Welches sind die zugrundeliegenden Vollzüge, die sich in dem religiösen "Weltzugang" wiederfinden, denn darum geht es doch im Religionsunterricht eigentlich: Wie kann man religiös sein, glaubwürdig und konstruktiv, ohne fundamentalistisch zu werden? Eine unbefriedigende Antwort (und damit einen schiefen Unterrichtsansatz) wollte ich nicht. Dann besser erst einmal "intuitiv" arbeiten. Vielleicht ließe sich ja so etwas gewinnen: Wann "funktioniert" der Reli-Unterricht, unabhängig von seinem jeweiligen Thema? Und dann könnte ich fragen, was ihn ausmacht, was ihn gegenüber anderen Fächern unverwechselbar macht – oder wäre der Deutschunterricht am Ende der bessere Religionsunterricht? Kommen wir über das Verstehen nicht hinaus? Das wäre schon eine ganze Menge, aber eben nicht das Eigentliche.
Meine "Lösung" steht bereits in der Überschrift. Das ist einerseits sehr biblisch: "Der Glaube kommt vom Hören", fides ex auditu. Aber geht es – andererseits – im Religionsunterricht um Glauben? "Worum denn sonst?", könnte man einwenden. Und vielleicht liegt hier der springende Punkt: Es geht nicht zuerst um Glauben, es geht – aus thematischer Sicht – um Gott! Und es geht um das individuelle und soziale Verhältnis zu dieser "Idee" von Gott (die ich übrigens nicht für eine "Erfindung" halte, sondern für eine Entdeckung), die eher mit Religiosität als mit Glaube umschrieben werden könnte. Anders gesagt: Wenn es im Religionsunterricht um mein und unser gemeinsames Verhältnis zum Glauben an Gott geht, darum, wie dieser Glaube im Leben möglich sein könnte und was aus diesem Glauben folgt (nicht nur, worin er "besteht"), was er verändert, inwiefern er fehlen würde, wenn es ihn nicht gäbe, dann liegt es doch (tatsächlich?) auf der Hand, im schulischen (d.h. staatlichen) Unterricht mehr auf die Voraussetzungen des Glaubens zu achten, auf das "Hören", als auf den Glauben selbst. Hören lernen, richtig hören lernen, immer auch mit der Möglichkeit, authentischer zu glauben. Darum ginge es.
Nun meint die biblische Wendung ursprünglich ja nicht das Hören in einem allgemeinen, sondern in einem konkreten Sinn: das Hören auf die Weisungen Gottes, die Tora, also vor allem einen treuen Gehorsam gegenüber dieser Freiheitsordnung. Als ob das nicht schon provokativ genug wäre: Neutestamentlich geht es im Sinne Jesu um das Hören auf das Wort des Vaters, sich immer wieder darauf einzulassen, sich selbst von dorther zu verstehen. Und bereits biblisch wird das als Zumutung, wenn auch als befreiende, verstanden! Und dann die historischen, geographischen, kulturellen Unterschiede ...
Was ist das Ziel des Reli-Unterrichts?
Aber: Darf die Bereitschaft zu dieser persönlichen Zumutung das Ziel des Religionsunterrichts sein? Immerhin ein ordentliches Lehrfach an einer öffentlichen Schule. Schön, wirklich schön, wenn einem Jugendlichen ein solcher Zugang etwas möglicher wird – aber darf sie einforderbar, das heißt immer auch: bewertbar und damit versetzungsrelevant sein? Sicher nicht.
Was also dann? Für mich liegt die Antwort in der einfachen Frage: Warum kommt der Glaube nicht vom Sehen? Das läge doch nahe. Sehen ist doch auch ein eindrucksvoller Zugang zur Wirklichkeit – und wären Sie lieber taub oder blind? Worauf würden Sie sich lieber verlassen? Auf das, was Sie hören oder auf das, was Sie sehen? Der für mich entscheidende Unterschied: Augen kann man schließen, Ohren nicht. Ich halte das für den springenden Punkt des Bildes: Die ungefilterte, nicht "ausgeblendete" Wirklichkeit. Wir können wegsehen, den Blick abwenden, die Augen schließen. Aber Weghören ist schon viel schwieriger, wenn ich mich erst einmal dafür entschieden habe, auch das wahrzunehmen, was meiner persönlichen Blickrichtung gerade nicht entspricht. Der Verzicht darauf, etwas zu überhören, was an mein Ohr dringt, darum geht es in diesem Bild. Das Unbequeme nicht ausfiltern, das Leise nicht überhören, aber auch nicht die Schreie der Leidenden (die im Dunkeln sieht man nie, aber man kann sie gelegentlich hören ...). Wenn Religiosität von einem solchen Hören kommt, dann ist dieses Hören einzuüben. Denn der Mensch ist das Wesen, das einüben muss, was es zum Menschen macht.
Was bedeutet heil sein beziehungsweise heil werden?
Hören einüben – machen wir die Probe aufs Exempel: Mittwochmorgen, dritte Stunde, online. Es ist die erste Stunde des Halbjahres, Thema: "Jesus Christus und die Kirche". Zugang: Was verstehst du unter heil sein beziehungsweise heil werden? Jeder schreibt dazu einen Gedanken in den (anonymen) Chat. Ergebnis: Allen (!) geht es um sich selbst. "Mit sich im Reinen sein" oder Ähnliches ist da zu lesen. Materiell (im Sinne von "Geld, Autos, Frauen (!)") hat das niemand verstanden, aber auch nicht gemeinschaftlich. Heil ist etwas sehr Individuelles für diesen Kurs, scheint mir. Immerhin! Die soziale Dimension des Heils ist ja auch ein Lernfeld – und bei der Themenwahl, die auf diesen ersten Zugang folgt, bilden "Kirchenthemen" tatsächlich den Schwerpunkt (Kirche in der Moderne und "heiße Eisen" der Kirchengeschichte), Derzeit möchten die Jugendlichen wohl einfach wissen, ob sie zu dieser Kirche gehören wollen. Wer kann es ihnen verdenken?
Hören ist also zunächst eine Kompetenz der Lehrkraft: Höre auf dich selbst und ich werde mir Mühe geben, auf dich zu hören. Dann können wir einüben, uns über das Gehörte so zu verständigen, dass es nicht fehlinterpretiert wird. Und dann können wir auch einüben, aufeinander und auf andere zu hören. So verstehe ich das: Hören und gehört werden. Es sollte folgen: Was habe ich bisher gehört? Was will ich und werde ich vielleicht in Zukunft hören? Wer hört mich? Wen höre ich? Und wozu höre ich mich gerufen? Die Antworten auf solche Fragen sind doch sehr verschieden, eine Orientierung für das Leben muss oft erst einmal erarbeitet werden. Nebenbei gelten sie für beide Seiten, Lehrende und Lernende. Aber diese Grenze verschwimmt im Religionsunterricht gelegentlich sowieso.
Wann Menschen motiviert sind, sich religiösen Themen zuzuwenden
Mit Blick auf die Schülerinnen und Schüler: Wozu wollen die Jungen und Mädchen denn etwas hören? Wie lautet denn die Bereitschaft, die nur darauf wartet, angesprochen zu werden? Die Antworten hierfür entnehme ich der Religionspsychologie: Wann sind Menschen motiviert, sich religiösen Themen zuzuwenden, wann sind sie bereit, sich etwas sagen zu lassen, das sie dann bedenken könnten? Worüber wollen sie sich ein Urteil bilden, mit dem sich leben lässt?
- Zum Beispiel darüber, wie sie mit moralisch schwierigen Fragen umgehen sollen, ohne wenigstens vor sich selbst "der Dumme" zu sein.
- Oder darüber, wie sie Lebenskrisen bewältigen können, ohne sich etwas vorzumachen.
- Oder wie sie ihr Selbstwertgefühl stärken können, ohne sich zu isolieren.
- Oder wie sie sich sozial verhalten und sozial empfinden können, ohne sich aufzugeben.
- Oder wie sie dankbar sein können, ohne abhängig zu sein.
- Oder wie sie die Welt verstehen können, ohne naiv zu werden.
Wie sehe ich bestimmte Themen aus Glaubenssicht?
Jede dieser Lebensfragen müsste darauf untersucht werden, welche Resonanzräume im Alltag, in biblischen Texten und kirchlichem Glaubensausdruck in Wort und Tat auffindbar sind. Welche Antworten geben wir darauf: Lehrer, Eltern, Seelsorger? Welche Antworten haben wir selbst darauf? Auch wenn die Antworten Erwachsener nicht die der Jugendlichen sein müssen: Es könnte eine gute Übung sein, diese Fragen einmal für sich selbst zu beantworten und es sollte Pflicht sein, diese Perspektiven zur Grundlage des Religionsunterrichts zu machen. Was habe ich aus Glaubenssicht zu sagen zu:
- dem Umgang mit der je eigenen Zerrissenheit
- dem Umgang mit der Grenze und den Grundlagen unserer Lebensmöglichkeiten
- dem Umgang mit unserem Bedürfnis nach Anerkennung
- dem Umgang mit unseren Mitmenschen, den nahen wie den fernen
- dem Umgang mit unserem Hunger nach Vorbild und Orientierung
- den Umgang mit unserem Bedürfnis, uns in dieser Welt zurechtzufinden
Eigentlich schulden wir den Kindern nur die Möglichkeit auf die Antwort der einen zugrunde liegenden Frage: Wie können wir (vor Gott) leben? Dazu müssen wir diese Frage aber auch hören. Und vielleicht ist das Einüben dieses Hörens auch das, was man unter "religiöser Kompetenz" diskutiert?
Übrigens: "Hören" ist nicht einmal ein Artikel im LThK.
Der Autor
Ulrich Scheicher ist Fachleiter für Katholische Religionslehre am Staatl. Studienseminar für das Lehramt an Gymnasien in Mainz, Lehrer für katholische Religion und Deutsch am Otto-Schott-Gymnasium (Mainz) sowieso nebenberuflich Supervisor. Außerdem ist er Mitglied des Vorstands der Landesarbeitsgemeinschaft Rheinland-Pfalz der Diözesanvereinigigungen kath. Religionslehrer/innen an Gymnasien und Gesamtschulen (LAG).