Wie die Bistümer bei der Aufarbeitung von Missbrauch vorankommen
Bischof Georg Bätzing schaut ernst in die Kamera und hält drei Finger hoch. Als Antwort auf die Frage: "Welche Note geben Sie der katholischen Kirche in der Aufarbeitung des Missbrauchsskandals?". So gesehen in der Rubrik "Sagen Sie jetzt nichts" im Magazin der "Süddeutschen Zeitung". Note drei – also befriedigend. Nicht gut oder sehr gut, aber besser als ausreichend oder mangelhaft. Ob alle das Urteil des Vorsitzenden der Bischofskonferenz teilen?
Ein Blick in die 27 deutschen Bistümer zeigt alles andere als ein einheitliches Bild – elf Jahre nach Beginn der Missbrauchsdebatte und knapp zweieinhalb Jahre nach der großen MHG-Studie: Forscher aus Mannheim, Heidelberg und Gießen (MHG) hatten in Personalakten von 1946 bis 2014 deutschlandweit 3.677 Betroffene sexueller Übergriffe durch mindestens 1.670 Priester und Ordensleute ohne Namensnennung ermittelt.
Eine Folge: Im Juni 2020 unterzeichnete als erste Institution in Deutschland die katholische Bischofskonferenz mit dem Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung, Johannes Wilhelm Rörig, eine Vereinbarung zur Aufarbeitung. Danach soll es unter anderem in jedem Bistum eine unabhängige Aufarbeitungskommission geben.
Bistümer gehen unterschiedlich vor
Abgesehen davon gehen die Bistümer bisher sehr unterschiedlich vor. Im Mittelpunkt von Aufmerksamkeit und zum Teil harscher Kritik steht das Erzbistum Köln: Kardinal Rainer Maria Woelki hatte als einer der ersten schonungslose Aufklärung versprochen und Ende 2018 eine Untersuchung zum Umgang der Bistumsverantwortlichen mit Fällen sexualisierter Gewalt bei der Münchner Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) in Auftrag gegeben. Nachdem andere Juristen der WSW-Expertise "methodische Mängel" bescheinigten, gab Woelki 2020 ein neues Gutachten bei dem Kölner Strafrechtler Björn Gercke in Auftrag. Es soll spätestens am 18. März vorliegen und Namen und Verantwortlichkeiten klar benennen.
WSW hat auch das Bistum Aachen unter die Lupe genommen, ohne dass es laute Klagen gab. Das im November vorgelegte Gutachten belastet unter anderem Altbischof Heinrich Mussinghoff und seinen früheren Generalvikar Manfred von Holtum. Sie und ihre verstorbenen Vorgänger seien mehr am Schutz der Täter orientiert gewesen als an der Fürsorge für die Opfer. Zudem habe es erhebliche Lücken in den Akten gegeben und große "systemische Defizite".
Auch im Erzbistum München-Freising war und ist WSW federführend: Bereits 2010 hatte die Kanzlei Personalakten gesichtet, publiziert wurde aber nur eine Kurzfassung der Ergebnisse - ohne Namensnennungen. Eine neue Studie – mit Namen – soll noch 2021 veröffentlicht werden. Kardinal Reinhard Marx kündigte an, er werde sich nicht einmischen.
Eine abgeschlossene Studie liegt seit Juni für Bischof Bätzings eigenes Bistum Limburg vor. 70 überwiegend externe Fachleute aus den verschiedensten Bereichen hatten in neun Teilprojekten den Umgang mit Missbrauch in den vergangenen 70 Jahren analysiert. Zugleich entwickelten sie rund 60 Vorschläge, wie systemische Faktoren künftig ausgeschlossen und Missbrauchstaten möglichst verhindert werden könnten. Bei der Analyse des Fehlverhaltens werden auch Namen genannt – etwa von Altbischof Franz Kamphaus und früheren Generalvikaren und Personaldezernenten.
Lehmann und Volk im Mittelpunkt in Mainz
Im Bistum Mainz stehen die prominenten und populären Kardinäle Karl Lehmann und Hermann Volk im Mittelpunkt der ersten Zwischenbilanz einer Studie, die im Oktober vorgelegt wurde. Endergebnisse der unabhängigen Untersuchung des Regensburger Rechtsanwalts Ulrich Weber, der auch die Missbrauchsfälle bei den Domspatzen erforscht hatte, sollen 2022 vorliegen. Weber nahm Fälle seit 1945 unter die Lupe, fand dabei deutlich höhere Zahlen als in der MHG-Studie und bescheinigte früheren Bistumsleitungen gravierendes Fehlverhalten.
Das Bistum Hildesheim hatte schon 2016 das sozialwissenschaftliche Forschungsinstitut IPP mit der Untersuchung der Missbrauchsvorwürfe gegen den früheren Bischof Heinrich Maria Janssen und andere Priester beauftragt. Das 2017 vorgestellte Gutachten warf mehreren früheren und gegenwärtigen Verantwortlichen im Bistum schwere Versäumnisse vor. Die Vorwürfe gegen Janssen, den ersten deutschen Bischof, der selbst als Täter bezichtigt wurde, ließen sich weder erhärten noch entkräften. Als neue Vorwürfe gegen ihn laut wurden, beauftragte das Bistum 2019 erneut eine Expertengruppe mit der Untersuchung. Ergebnisse sollen noch 2021 vorliegen.
Das Bistum Münster veröffentlichte im Dezember erste Zwischenergebnisse einer unabhängigen Studie von Ethnologinnen und Historikern, die 2022 abgeschlossen sein soll. Danach zeigten Bischöfe und andere Verantwortliche große Milde für Missbrauchstäter unter den Klerikern und "massives Leitungs- und Kontrollversagen", so die Forscher um Historiker Thomas Großbölting. Die Bischöfe hätten "nicht nur moralisch, sondern auch juristisch und kirchenrechtlich nicht korrekt gehandelt".
Eklatante Missstände
Das Erzbistum Berlin legte Ende Januar erste Ergebnisse eines Missbrauchsgutachtens der Rechtsanwaltskanzlei Redeker Sellner Dahs vor. Es bescheinigt eklatante "Missstände" beim Umgang mit Tätern und Opfern von sexuellem Missbrauch. Wer persönlich dafür Verantwortung trägt, bleibt vorerst unklar, denn im veröffentlichten Teil werden weder Namen von Beschuldigten noch – bis auf wenige Ausnahmen – von Personalverantwortlichen genannt. Vertreter von Diözesanrat und Priesterrat sollen jetzt weiter forschen, was zu Kritik und Zweifeln an der Unabhängigkeit führte.
Im Bistum Essen läuft seit März 2020 eine externe wissenschaftliche Studie – ebenfalls mit dem Forschungsinstitut IPP. Sie soll Missbrauchsfälle und den Umgang damit untersuchen und dabei auch Strukturen aufzeigen, die Missbrauch und Vertuschung begünstigen.
In den meisten anderen Bistümern gibt es Teilgutachten oder sind ähnliche Untersuchungen in Vorbereitung. Einige suchen noch nach Betroffenen, die bei der Aufarbeitung mitwirken, wie es auch die Vereinbarung mit dem Missbrauchsbeauftragten vorsieht. Zum Teil heißt es, man wolle der unabhängigen Kommission nicht vorgreifen, auch nicht durch einen Auftrag für eigene Studien. Etliche Bistümer planen auch gemeinsame Betroffenenbeiräte oder Aufarbeitungskommissionen - etwa Fulda, Mainz und Limburg oder Hamburg, Hildesheim und Osnabrück.
Ein Thema für Jahre
So oder so – das Thema Aufklärung und Aufarbeitung wird die Kirche in Deutschland noch über Jahre beschäftigen. Zugleich – siehe Köln – wächst der Druck, auch was Vertrauen und Glaubwürdigkeit angeht. Auf der anderen Seite ist die katholische Kirche in vielen Bereichen weiter als die evangelische oder gar Schulen und Sportverbände – auch wenn dies keine Ausrede sein darf.
Und welche Note gibt der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung der katholischen Kirche? Er habe den Eindruck, dass sich die "Bistümer nun wirklich auf den Weg machen", sagt Rörig auf Anfrage der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). Auch wenn es bedauerlich sei, dass die Vorgänge im Erzbistum Köln bei vielen Misstrauen schürten am Aufarbeitungswillen.
Mit Blick auf die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD), die noch keine Vereinbarung mit Rörig geschlossen hat, sagte er, er rechne stark damit, dass die Beratungen dazu in Kürze abgeschlossen werden könnten. Unabhängig von diesen Fortschritten plädiert er aber auch für ein stärkeres Eingreifen der Politik und eine unabhängigere Aufarbeitung – genau wie Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) kürzlich im ZDF.
Insgesamt sei er allerdings mit der katholischen Kirche "grundsätzlich zufrieden" in Sachen Aufarbeitung, so Rörig weiter - auch wenn noch viel Luft nach oben sei. Und damit liegt er ja ganz nah bei dem Urteil von Bischof Bätzing.