"Die Wacht am Rhein": Vor 75 Jahren startete der "Rheinische Merkur"
Christlich, europäisch, antikommunistisch. Die Wochenzeitung "Rheinischer Merkur" galt in der jungen Bundesrepublik als Leib- und Magenblatt Konrad Adenauers und als Bastion bürgerlich-konservativen Denkens. Vor 75 Jahren, am 15. März 1946, wurde das "Flaggschiff der katholischen Publizistik" gegründet.
Es war der aus dem Schweizer Exil heimgekehrte Hitler-Gegner Franz Albert Kramer, der den "Rheinischen Merkur" im kriegszerstörten Koblenz aus der Taufe hob. Kramer wollte mit seiner Zeitung die konfessionelle und politische Spaltung im konservativen Lager überwinden.
Westbindung und Aussöhnung mit Frankreich
Mit seinem Titel knüpfte das Blatt an den zwischen 1814 und 1816 publizierten "Rheinischen Merkur" des katholischen Intellektuellen Joseph Görres an. "Mit der Ursprünglichkeit seines Denkens, mit der Kraft seiner Sprache, mit der ganzen hinreißenden Leidenschaftlichkeit seines Geistes hat Görres dem Rheinischen Merkur den höchsten Rang gesichert", schrieb Kramer seiner Neugründung ins Stammbuch.
Anders als Görres, ein unerschrockener Feind Napoleons, unterstützten die Leitartikler des neuen Merkur die Westbindung der Bundesrepublik und die Aussöhnung mit Frankreich. Bis in die 1970er Jahre hinein übte der "Merkur" spürbaren Einfluss auf die öffentliche Meinung aus – obwohl er schon seit Ende der 50er Jahre an Auflage verlor und gegenüber der "Zeit" oder dem "Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt" ins Hintertreffen geriet
Im Umbruch von 1968 präsentierte sich die Zeitung als Sprachrohr eines konservativen Widerstands. Auch am SPD-Kanzler Willy Brandt (1969-74) und dessen Ostpolitik arbeitete das Blatt sich ab. Ironischerweise brachte das Ende der Ära Brandt auch den konservativen Kurs der Zeitung ins Schlingern. Die ideologischen Gräben wurden langsam zugeschüttet, das katholische Milieu verdämmerte.
Unterdessen wuchs der Einfluss der katholischen Kirche auf die Zeitung: 1970 hatte der Merkur erstmals Zuschüsse vom Erzbistum Köln erhalten, seit 1974 war das Blatt in der Hand von mehreren Bistümern, 1976 beteiligte sich auch der Verband der Diözesen Deutschlands (VDD). 1980 vereinigte er sich aus wirtschaftlichen Gründen mit dem vormals protestantischen Blatt "Christ und Welt".
Offiziell begründete die katholische Deutsche Bischofskonferenz 2010 das Aus für den Merkur mit einem erheblichen Zuschussvolumen und einer gesunkenen Abonnentenzahl – wenn auch wohl der Kölner Kardinal Joachim Meisner im Hintergrund seine Fäden zog, wie der letzte Chefredakteur Michael Rutz es formuliert. Meisner habe andere an der Zeitung beteiligte Bistümer in eine Allianz gezwungen. "Wir waren ihm vermutlich zu liberal. Aber darauf waren wir stolz."
In der Tat war aber auch das wirtschaftliche Argument nicht ganz von der Hand zu weisen. Mit einer Auflage von 220.000 und einem Verkaufspreis von 20 Pfennig gestartet, sank die Zahl der zum vollen Preis verkauften Exemplare unter 20.000. Zuletzt gab es Überlegungen, das digitale Angebot auszubauen; auch über einen Wechsel zum Magazin-Format wurde nachgedacht.
Stattdessen lebt der Merkur in dem Titel "Christ & Welt" fort, der seit Dezember 2010 als sechsseitige Beilage in der "Zeit" erscheint, bei der ehemaligen Konkurrenz also. Das Markenzeichen "Rheinischer Merkur" findet sich noch im Titelkopf.
Glaube bleibe "ein wesentliches Thema unserer Gesellschaft"
Das Projekt habe einen sehr guten Weg genommen, findet Rutz. An dem Engagement der "Zeit" und dem Zuspruch der Leser zeige sich, dass Religion und Glaube "ein wesentliches Thema unserer Gesellschaft bleiben". Ein paar Altgediente sind an Bord geblieben, neue Kräfte kamen hinzu, zuletzt Georg Löwisch von der "tageszeitung" als neuer Chefredakteur.
In den besten Momenten greifen die Beiträge in "Christ & Welt" das Erbe von Urahn Joseph Görres auf – und beleben die Debatte über Kirche und Gesellschaft. Wenn auch die Tage wohl vorbei sind, in denen Zeitungen den Takt in öffentlichen Diskussionen vorgaben.