Fontevraud: Wo eine der mächtigsten Äbtissinnen der Welt herrschte
Zwischen Paris und Nantes liegt unweit der Loire die frühere Königsabtei Fontevraud. Hier herrschte einst eine der mächtigsten Äbtissinnen der Welt. Priester wie Angehörige des französischen Königshauses hörten auf die Benediktinerin, die direkt dem Papst unterstellt war. Für ihre Doktorarbeit forschte die Historikerin Annelena Müller (38) von der Universität Freiburg (Schweiz) jahrelang über die Abtei. Im Interview berichtet sie über ihre Ergebnisse.
Frage: Frau Müller, was ist das Besondere an Fontevraud?
Müller: Entgegen einer weit verbreiteten Annahme gab es durchaus viele adelige Frauenklöster, in denen Männer Frauen als Priester und Verwalter dienten. Aber nirgendwo hatten Äbtissinnen so viel Macht wie in Fontevraud. Die Äbtissin war direkt dem Papst unterstellt. Im späten Mittelalter umfasste ihr Orden knapp 80 Klöster in ganz Westfrankreich. Zudem verfügte Fontevraud über umfangreiche weltliche Besitztümer – Ländereien, Wälder, Weiden, Mühlen, Brücken samt den Rechten auf Zölle und Abgaben und Herrschaftsrechten über Land und Leute. Damit einher ging auch große politische Macht.
Frage: Zu welchem Zeitpunkt hatte die Äbtissin am meisten Macht?
Müller: Dann, wenn der König schwach und auf Verbündete angewiesen war. Und das war in der französischen Geschichte häufig der Fall. Im 12. und 13. Jahrhundert profitierte Fontevraud von der Rivalität der französischen Krone mit dem Haus Plantagenet. Beide buhlten um Fontevraud. Besonders mächtig war Fontevraud unter ihren Bourbon-Äbtissinnen, 1491 bis 1670. Sie führten das Ordensnetzwerk durch die blutige Zeit der französischen Religionskriege 1562 bis 1598. Sie zentralisierten das weitverzweigte Ordensnetzwerk samt seiner weltlichen Besitztümer und sorgten dafür, dass die Gebiete des Ordens katholisch und königstreu blieben.
Frage: Heißt das, sie waren ein Machtfaktor in der französischen Politik?
Müller: Genau. Die Reformation war in West- und Südwestfrankreich besonders erfolgreich. Die zunehmend schwachen Valois-Könige waren auf loyale Verbündete vor Ort angewiesen. Und Fontevraud war ein ganz zentraler lokaler Verbündeter während und nach den Religionskriegen. Die Äbtissinnen sorgten dafür, dass diese Gebiete königstreu blieben oder es wieder wurden.
Frage: Wie repräsentativ ist Fontevraud für die Macht von Frauen in Klöstern?
Müller: Tatsächlich gab es viele adelige Frauenklöster in Europa, die vom Prinzip her ähnlich funktionierten: Notre Dame de Soissons in der Picardie, das Fraumünster von Zürich, Las Huelgas von Burgos in Spanien, Essen und Quedlinburg, um nur ein paar ganz prominente zu nennen. Im Mittelalter war es gang und gäbe, dass Frauenklöster umfangreiche geistliche und weltliche Macht ausübten. Aber der Umfang der Macht von Fontevraud war durchaus besonders – wenn nicht einzigartig.
Frage: Reformkatholikinnen fordern heute eine Trennung von Leitungsamt und Weiheamt. Inwiefern kann Fontevraud dafür ein Vorbild sein?
Müller: Die Forderung bezieht sich auf einen Beschluss des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-1965), der die Leitungsvollmacht an die Weihevollmacht bindet – erstmals in der Geschichte der katholischen Kirche. Vorher war es auch Nichtgeweihten, also auch Frauen, möglich, Leitungsfunktionen in der Kirche innezuhaben. Die Äbtissin von Fontevraud – wie auch viele andere Äbtissinnen – ernannte zum Beispiel Pfarrer für die Pfarreien unter der Jurisdiktion ihres Klosters, über die sie also das Patronatsrecht hatte. Die Weihe des ernannten Pfarrers übernahm dann der örtliche Bischof.
Frage: Heute wäre das undenkbar...
Müller: Eine solche Trennung ist heute nicht mehr möglich. Patronatsrechte könnten nicht mal mehr theoretisch bei einem Frauenkloster liegen. Fontevraud ist ein historischer Beleg dafür, dass es während der längsten Zeit der Geschichte der katholischen Kirche durchaus anders aussah und Frauen verschiedene Führungspositionen innehatten.
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Frage: In Fontevraud herrschte eine Drei-Klassen-Gesellschaft: Es gab Chorschwestern, die nur gebetet haben. Es gab Laienschwestern, die sich um die Abtei und um Kranke kümmerten. Und es gab Männer, die als Mönche und Priester das Kloster verstärkten. Warum diese Einteilung?
Müller: Das ist für ein adeliges Kloster nicht untypisch. Die Chorschwestern entstammten dem Adel; die Laienschwestern rekrutierten sich aus anderen Schichten. Oft mussten diese auch kein Eintrittsgeld zahlen – oder nur ein geringeres. Sie bestritten ihren Unterhalt im Kloster durch ihre Dienste. Und auch dass es in Fontevraud Männer gab, ist an sich nichts Ungewöhnliches. Jedes Frauenkloster musste Wege finden, um die Seelsorge der Gemeinschaft zu sichern – das ist bis heute so. Besonders die reichen, adeligen Klöster konnten sogar ganze Kanoniker-Gemeinschaften anstellen und bezahlen.
Frage: Eine ganze Gruppe von Priestern dienten dann der Äbtissin und ihren Mitschwestern?
Müller: Genau. Das war besonders in Städten der Fall, wo es meist mehrere klösterliche Gemeinschaften gab. Die Priester bzw. Priestermönche, die sich in den Dienst eines Frauenklosters stellten, wurden entsprechend für ihre Dienste entlohnt. In Fontevraud, wo Abtei und Priorate eher ländlich gelegen waren, waren die Männer direkt im Orden integriert. Ähnlich sah es übrigens auch in zahlreichen Reichsstiften aus; Buchau in Oberschwaben ist ein Beispiel.
Frage: Was ist eine Laienschwester? Schwestern können keine Kleriker werden – sind nicht also alle Schwestern Laien?
Müller: Wie so häufig sind solche Begriffe schwammig, vor allem für die Vormoderne. Aber im Allgemeinen kann man sagen, dass eine Laienschwester erst im späteren Leben einem Kloster beitrat, während viele Chorschwestern bereits im Kindesalter in ein Kloster kamen und dort auch ausgebildet wurden. Als geweihte Jungfrauen wurde ihrem Gebet besondere Wirkmacht nachgesagt. Laienschwestern hingegen waren Konversinnen. Sie fanden zum Beispiel als Witwe den Weg in ein Kloster. Meist hatten sie neben den Gebetspflichten noch weitere Aufgaben, zum Beispiel in der Küche oder in der Krankenstation.
Frage: Ihr Augsburger Kollege Martin Kaufhold sagt, er finde es geradezu irritierend, wie gut man als Mittelalter-Historiker heute noch verstehe, was in der katholischen Kirche vor sich geht. Hat er Recht?
Müller (lacht): Für die rechtlichen Grundfesten der Kirche sind die Reformen des 10. und 11. Jahrhunderts zentral und viele davon bis heute prägend. Der Priesterzölibat etwa stammt aus dieser Zeit. Und kirchliche Reformen, die es ja schon immer gegeben hat, argumentieren immer mit der innerkirchlichen Tradition – die dann wiederum sehr unterschiedlich ausgelegt wurde und wird.
Frage: Sie haben in Zürich vor weiblichen Führungskräften über Ihre Arbeit berichtet. Welches Aha-Erlebnis gab es dabei?
Müller: Für die Frauen war es überraschend zu erfahren, wie viele Gestaltungsmöglichkeiten es für Klosterfrauen im Mittelalter gab. Das selbstständige und – aus Sicht der Zeitgenossen – auch selbstverständliche Verwalten und Herrschen europäischer Äbtissinnen steht in einem krassen Gegensatz zu dem Bild, das wir von Frauen im Mittelalter sonst haben. Ein Bild, das meist sehr viel negativer ist als die historische Realität, die zumindest für adelige Frauen sehr viel Raum für Macht und Gestaltung gelassen hat.
Zur Person
Annalena Müller ist Expertin für Geschlechtergeschichte in Klöstern und war Fachberaterin der Ausstellung "Nonnen. Starke Frauen im Mittelalter" des Landesmuseums Zürich. Ihre Monografie "From the Cloister to the State - Fontevraud and the Making of Bourbon France" soll dieses Jahr im britischen Verlagshaus Routledge erscheinen.