Tübinger Theologieprofessor wird 95 Jahre alt

Jürgen Moltmann: Kirchengemeinden haben in Corona-Krise nicht versagt

Veröffentlicht am 08.04.2021 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Tübingen ‐ Seine "Theologie der Hoffnung" gilt als bahnbrechendes Werk der Evangelischen Theologie – und darüber hinaus. Heute wird Jürgen Moltmann 95 Jahre alt. Im Interview äußert er sich zur Pandemie und zum Zustand der Ökumene.

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Jürgen Moltmann, einer der renommiertesten evangelischen Theologen, wird heute 95 Jahre alt. Seine zentralen Werke sind die "Theologie der Hoffnung" und die "Ethik der Hoffnung". Im Interview spricht der Tübinger Wissenschaftler auch über die Corona-Pandemie und seinen Geburtstag.

Frage: Herr Professor Moltmann, wir leben gerade in bewegten Zeiten. Wie kommen Sie mit der Pandemie zurecht?

Moltmann: Als Schreibtischmensch habe ich nicht viele Unterschiede bemerkt. Nur dass viele Vortragsreisen abgesagt wurden, hat mich enttäuscht. Wenn man mit sich selbst allein ist, wird es einem manchmal langweilig.

Frage: Ihnen liegt eine "Theologie der Hoffnung" am Herzen. Derzeit scheinen gesamtgesellschaftlich eher Verdruss, Verzagtheit und Frustration bestimmend. Wie kann die Hoffnung revitalisiert werden?

Moltmann: Verdruss und Verzagtheit kommen auf, wenn wir ungeduldig werden. Geduld ist der lange Atem der Hoffnung - Resignation ist damit nicht gemeint. In meiner Jugend habe ich die Geduld der Hoffnung in einer dreijährigen Kriegsgefangenschaft gelernt.

Frage: Kann dabei auch das Gebet als Schrei nach Gott helfen?

Moltmann: Die Psalmen schreien zu Gott: Wie lang, Herr, wie lange? Gebete als Fürbitten helfen einsam Sterbenden. Sie sind dann nicht allein. Sie fühlen sich von einer betenden Gemeinschaft zu Gott getragen.

Frage: Haben die Kirchen in der Corona-Krise versagt?

Moltmann: Die Kirchengemeinden haben nicht versagt. Sie entwickeln eine Menge Fantasie für das Reich Gottes und die Seelsorge im Einzelnen, die sie in normalen Zeiten nicht entwickelt hätten. Ich habe dem Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland, Heinrich Bedford-Strohm, im Juni den Vorschlag gemacht, zusammen mit der katholischen Kirche einen "Volkstrauertag" auszurufen. Jetzt tut es der Bundespräsident im April.

Joseph Ratzinger und Jürgen Moltmann
Bild: ©KNA-Bild (Archivbild)

Jürgen Moltmann war von 1967 bis 1994 Professor für Systematische Theologie an der Universität Tübingen. Der protestantische Theologe stand auch mit Kardinal Joseph Ratzinger in Kontakt.

Frage: Die katholisch-protestantische Ökumene erlebt gerade theologisch bewegte Zeiten. Einerseits geschieht etwas, auf der anderen Seite verschaffen sich gerade in der katholischen Kirche auch Beharrungskräfte Raum. Welche Perspektive sehen Sie?

Moltmann: Die gegenseitige Anerkennung der Taufe haben wir schon. Die gemeinsame Wortverkündigung des Evangeliums auch, nur mit der Eucharistie hapert es, weil nur eine geweihte Person sie zelebrieren kann. Das ist für evangelische Menschen eine Herabwürdigung der Taufe. Getauft werden Männer und Frauen. In dieser Zeit entsteht eine ökumenische Gemeinde am Radio am Sonntagmorgen von 10 bis 11, sie geht in die Millionen.

Frage: So wie Johann Baptist Metz auf katholischer Seite stehen Sie auf evangelischer Seite für eine politische Theologie, die den Glauben im Hier und Jetzt verortet und sich nicht so sehr um vermeintlich ewige, unverrückbare Wahrheiten schert. Trügt der Eindruck, dass sich diese Position wissenschaftlich zunehmend durchsetzt?

Moltmann: Von 1970 bis 1990 waren die Jahre der Politischen Theologie: die Theologie der Befreiung, die Schwarze Theologie, die Feministische Theologie, die Ökologische Theologie. Seitdem bemühen sich die Theologischen Fakultäten um ihre Wissenschaftlichkeit und treten in Dialoge mit den Rechtswissenschaften, der Germanistik und den Naturwissenschaften ein. Heidelberg ist ein hervorragendes Beispiel. Ich persönlich arbeite an einer "Politischen Theologie der Modernen Welt".

Frage: Eine andere Wahrnehmung ist, dass die Theologie in den aktuellen Diskursen kaum mehr vorkommt. Woran liegt das?

Moltmann: Ich habe nicht den Eindruck. Der Ethikrat ist eine wichtige Stimme, und das Suizidurteil des Bundesverfassungsgerichts von 2020 wird heftig theologisch diskutiert.

Frage: Sie betreuen im hohen Alter Promovenden. Warum muten Sie sich das noch zu?

Moltmann: Ich liebe den erwachsenen wissenschaftlichen Geist. Ein chinesischer Theologe - Hong Liang - hat sich 2008, als ich in Peking war, mir angeschlossen und hat 2018 mit summa cum laude in Tübingen promoviert. Jetzt habe ich einen amerikanischen Promovenden.

Frage: Wie wollen Sie den 95. Geburtstag feiern?

Moltmann: Dankbar! Allein, weil meine Frau vor fünf Jahren gestorben ist, aber nicht einsam, weil unsere vier Töchter kommen und ich vierfacher Uropa bin. Der weltweite Schülerkreis wird sich auch melden.

Von Michael Jacquemain (KNA)