Gewalt gegen erwachsene Frauen in Kirche: Neues Angebot bietet Hilfe
"Aufrecht!" – Dieses Wort prangt in roter Schrift mitten auf einem Schwarz-Weiß-Foto. Daneben steht im Zentrum der Aufnahme eine Frau, die mit durchgedrücktem Rücken vor einer verschlossenen Kirchentür steht und ihren Kopf mit dem Gesicht zur Betrachterin gerichtet nach oben reckt. Sie hat das Portal des Gotteshauses hinter sich geschlossen und ist bereit, nach vorne zu gehen, ihr Leben in die Hand zu nehmen und sich mit dem Vergangenen auseinanderzusetzen. Diese Fotografie ist das erste, was die Besucherinnen und Besucher der neuen Internetseite der Arbeitsstelle für Frauenseelsorge der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) sehen, wenn sie die Seite www.gegenGewalt-anFrauen-inKirche.de aufrufen. Die Seite wendet sich an Frauen, die als Erwachsene in der Kirche Erfahrungen mit sexuellem und geistlichem Missbrauch gemacht haben. Das Foto drückt fast ohne Worte aus, was der Auftrag des Ende Dezember vergangenen Jahres online gegangenen Angebots ist: Frauen eine leicht zugängliche Beratung nach Missbrauch zu ermöglichen und ihnen dabei zu helfen, ihre von Leid geprägte Geschichte mit der Kirche zu klären – damit sie wieder "aufrecht" durchs Leben gehen können.
"Über unsere Internetseite bieten wir Erstberatung und Krisenintervention für die betroffenen Frauen an", sagt Aurica Jax. Die promovierte Theologin leitet seit April 2019 die DBK-Arbeitsstelle für Frauenseelsorge mit Sitz in Düsseldorf. "Mit unserem Angebot schließen wir eine Lücke, denn bisher gab es keine Ansprechpartner für erwachsene Frauen, die sexuelle Gewalt in der Kirche erlebt haben", so Jax. Auch wolle man den Betroffenen dadurch ersparen, bei diesem sensiblen Thema zwischen Institutionen und Beratungsstellen "hin und her geschickt" zu werden. Denn oft würden sowohl die diözesanen Missbrauchsbeauftragten als auch die verantwortlichen Ordensgemeinschaften darauf verweisen, dass sie für diesen konkreten Fall nicht zuständig seien.
Die Idee zu diesem Online-Angebot der Frauenseelsorge stammt von den Betroffenen selbst. Bei der Tagung "Gewalt gegen Frauen in Orden und Kirche" kamen im September 2019 in Siegburg 125 Teilnehmerinnen zusammen, von denen viele leidvolle Erfahrungen mit der Kirche gemacht haben. Erst ein halbes Jahr zuvor hatte Papst Franziskus eingeräumt, dass es in der Kirche sexuelle Vergehen an Ordensfrauen durch Kleriker gibt. Damit brach der Pontifex ein Tabu und trug dazu bei, den Fokus der kirchlichen Aufarbeitung über den Kindesmissbrauch hinaus auf Gewalt gegen erwachsene Frauen zu weiten. Das schlug sich auch bei der Tagung in Siegburg nieder. "Die Veranstaltung bot viel Gelegenheit zum offenen Austausch", berichtet Jax, die für die Organisation mitverantwortlich war. Die zentrale Anlaufstelle im Netz sei eine Frucht der Tagung – ebenso wie das Buchprojekt "Erzählen als Widerstand" des Katholischen Deutschen Frauenbundes (KDFB), in dem erwachsene Frauen sehr persönlich über ihre Missbrauchserfahrungen in der Kirche berichten.
Online-Beratung bietet vollständige Anonymität
Unter Mitwirkung einiger Teilnehmerinnen aus Siegburg, die auch Beiträge in dem Buch veröffentlicht haben, konzipierten Jax und ihre Kolleginnen das neue Internetangebot ihrer Arbeitsstelle. Das Titelbild der Homepage verweist dabei auf ihren Ursprung bei der Tagung, denn für die Veranstaltung wurde dieselbe Aufnahme verwendet. Der direkte Kontakt zu den Betroffenen machte einen eigenen Beirat unnötig und sorgte für ehrliche Rückmeldungen: Die Formulierungen auf einer Testseite seien einigen zunächst "nicht drastisch genug" gewesen, erinnert sich Jax. Über den Namen der Internetseite und die dort veröffentlichten Texte sei viel gesprochen worden, auch mit vielen, die bereits länger in der Kirche zur Missbrauchsthematik arbeiten. "Fast jedes Wort auf der Homepage ist dreimal umgedreht worden." Die Planung wurde zudem mit dem für die Frauenseelsorge zuständigen Bischof Franz-Josef Bode und der DBK als Geldgeberin abgestimmt.
Ein besonders wichtiger Aspekt sei die vollständige Anonymität der Beratung gewesen, so Jax. Wer in Kontakt mit der Anlaufstelle treten wolle, müsse sich über die Homepage kostenlos registrieren. "Das passiert mit einem Decknamen und mittels einer Software, die etwa auch die Telefonseelsorge benutzt." Die erste Mail in diesem System, in dem die betroffene Frau ihr Anliegen beschreibt, geht an alle acht Ansprechpartnerinnen und -partner, die zur Verfügung stehen. Diese wurden bewusst divers ausgewählt, um für jede Betroffene eine ihren Wünschen entsprechende Person bereitzuhalten: Unter den sechs Frauen und zwei Männern finden sich etwa Ordensleute, Theologinnen und geistliche Begleiter, aber auch eine Kirchenrechtlerin, eine Psychologin und eine Sozialpädagogin. Zwei der Ansprechpartnerinnen arbeiten zudem nicht im kirchlichen Dienst. Zu den bekannteren Personen der Liste zählen der ehemalige Provinzial der Jesuiten, Pater Stefan Kiechle, sowie die Theologin und Philosophin Doris Reisinger, die jüngst ein Buch über die Rolle Benedikts XVI. im kirchlichen Missbrauchsskandal veröffentlicht hat und als erwachsene Frau selbst Opfer von Missbrauch in einer Ordensgemeinschaft geworden ist.
Werde bei der Kontaktaufnahme ein bestimmter Ansprechpartner angefragt, versuche man, sie oder ihn der Betroffenen zuzuteilen. "Ab diesem Zeitpunkt steht nur noch diese eine Person im Gespräch mit der betroffenen Frau", erklärt Jax. Zunächst gehe es darum, den Frauen zuzuhören und ihnen Glauben zu schenken. "Im Anschluss wird in der Beratung geschaut, was die Frau jetzt benötigt und welche konkreten Schritte als Nächstes unternommen werden." Dabei könnten Fragen nach dem im konkreten Fall zuständigen Bistum oder Orden, nach Entschädigungszahlungen oder kirchenrechtlichen Zusammenhängen geklärt werden. Auch über eine Therapie oder den Gang in die Öffentlichkeit könne man gemeinsam nachdenken. "Viele Betroffene wollen ihr Schicksal schildern, um zu zeigen, dass ihre schrecklichen Erfahrungen kein Einzelfall sind", so Jax. "Oder sie haben bereits erste Schritte unternommen, um Gerechtigkeit herzustellen, landen aber dann in einer Warteschleife, in der sie immer wieder vertröstet werden."
Sensibilität in Kirche für Thema vergrößern
In den ersten Monaten wurde das Online-Angebot bereits intensiv genutzt. "Es haben sich sehr unterschiedliche Frauen an uns gewandt", sagt die Leiterin der Arbeitsstelle. Einige seien zuvor in einem Orden gewesen, andere derzeit noch Mitglieder einer Gemeinschaft und wieder andere haben Missbrauch in einer Pfarrgemeinde oder anderen kirchlichen Institution erlebt. Darüber hinaus habe es viele positive Rückmeldungen gegeben, dass es nun überhaupt ein Beratungsangebot gibt. Darüber freut sich Jax, denn es sei auch Aufgabe der Anlaufstelle, in der Kirche die Sensibilität für das Thema zu vergrößern und Bischöfe konkret zu beraten: "Missbrauch geschieht nicht nur an Kindern, sondern auch an Erwachsenen. Hier ist die Kirche in der Verantwortung." Deshalb habe sich auch die Arbeitsstelle für Männerseelsorge des Themas "Gewalt gegen erwachsene Männer in kirchlichen Kontexten" angenommen, zunächst im Februar 2021 mit einer Online-Veranstaltung, auf die eine Präsenz-Tagung im April 2022 folgen wird.
Für das Online-Beratungsangebot der Arbeitsstelle für Frauenseelsorge ist jeweils nach sechs und zwölf Monaten eine Evaluierung vorgesehen. Dadurch wolle man die Qualität der Beratung sichern, aber auch mögliche Weiterentwicklungen angehen, verrät Jax. Dazu zähle etwa die Überlegung, die Internetseite ins Englische zu übersetzen, um ausländische Ordensfrauen zu erreichen, die in Deutschland tätig sind. "Außerdem setzen wir uns weiter inhaltlich mit der Thematik auseinander und bereiten eine Tagung vor, die sich im Oktober unter dem Titel 'Zur Sprache kommen' mit der Rolle biblischer Texte befassen wird." Denn auch von der Interpretation bestimmter Passagen der Heiligen Schrift hänge ab, ob Missbrauch begünstigt oder aber zur Sprache gebracht und bekämpft werde, sagt Aurica Jax. Auch wolle man die Anlaufstelle durch gezielte Werbung insgesamt bekannter machen – denn schließlich verdiene jede betroffene Frau Unterstützung, um wieder "aufrecht" durchs Leben gehen zu können.