Von besonderen Glücksmomenten im Distanzunterricht
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Vor einigen Tagen fiel mir in der Süddeutschen Zeitung ein kleiner Aufsatz über das Glück ins Auge (Sebastian Herrmann: Wer das Glück sucht . . . – SZ 94 (21), 24.4.2021, S.1). "Das Glück wohnt da, wo es niemand erwartet", schrieb der Autor. Wohl wahr, dachte ich in den vergangenen Tagen.
Im achten Schuljahr lesen wir im zweiten Halbjahr in der Regel "Oskar und die Dame in Rosa" des französischen Schriftstellers Eric-Emmanuel Schmitt. Ein kleiner Junge, Oskar, erlebt in einem Krankenhaus seine letzten Tage, unterstützt von Leidensgenossen, seinem Arzt und vor allem von Oma Rosa, die ihm auf unnachahmliche Weise hilft, diese letzten Tage mit Leben in all seiner Großartigkeit und Abenteuerlichkeit zu füllen. Oma Rosa stiftet Oskar dazu an, Briefe an Gott zu schreiben; Oskar lässt sich darauf ein, und so entspinnt sich eine facettenreiche Auseinandersetzung mit dem Leben und dem, der es möglicherweise in seiner Hand hält.
Thema "Sterben und Tod" in der Pandemie
Angesichts der Pandemie und der ungünstigen Unterrichtslage war ich dieses Mal unsicher, ob es dem Kurs zumutbar wäre, sich mit dem Thema "Sterben und Tod" zu beschäftigen. Schließlich war früh abzusehen, dass ich die Truppe in diesem Halbjahr im Unterricht kaum sehen würde. Ich habe meine Bedenken gemailt und um ein Meinungsbild gebeten. Fast alle im Kurs haben geantwortet, und es bestand einhellig die Meinung, dass wir das Buch auf jeden Fall lesen sollten. Schon als ich mein Vorhaben im letzten Halbjahr vorstellte, gab es nur positive Reaktionen und die Meinung, dass es durchaus angemessen sei, sich auch solch schwierigen Themen zu stellen. Schließlich bekam ich sogar von einer Mutter eine Mail mit der klaren Bitte, den Kindern die Beschäftigung mit Buch und Thema nicht vorzuenthalten. Nun gut, wir hatten alle Mut und Risikobereitschaft, haben also losgelegt.
Die Schülerinnen und Schüler lesen seit Anfang des Jahres das Buch und bearbeiten ein Lesetagebuch, welches ich vor einigen Jahren entwickelt habe. Da wir in diesem Jahr nur per Videokonferenz miteinander reden können, gibt es die zusätzliche Aufgabe, jede Woche ein Leseprotokoll zu schreiben und mir zu schicken. Aus diesen wöchentlichen Protokollen, die mich manchmal sehr berührt haben, habe ich schließlich seit einigen Wochen jeweils eine kleine Zusammenstellung wieder an den Kurs zurückgeschickt, die Oskar-Protokolle – natürlich nicht, ohne mir auch hierfür zuvor ein Einverständnis zu holen.
Ich habe den Eindruck gewonnen, als hätten die allermeisten Schülerinnen und Schüler sich ziemlich erfolgreich mit dem Buch und mit dem Thema auseinandergesetzt. Zumindest gab es niemanden, der – wie vergangenes Jahr ein Schüler – unumwunden zurückgemeldet hätte, dass er mit dem Buch nichts hätte anfangen können. Ich habe schon viele tolle Lesetagebücher in den vergangenen Jahren auf meinem Schreibtisch vorgefunden und bin mir grundsätzlich sicher, dass es eine gute Sache ist, Oskar zu lesen. Aber in jedem Jahr empfinde ich von Neuem eine Spannung, und in diesem Jahr mit dem Distanzunterricht besonders. Zugegebenermaßen war ich mir überhaupt nicht sicher; die Sache hätte auch schiefgehen können.
Vor diesem Hintergrund habe ich den oben zitierten Satz vorletzten Samstag gelesen, modifiziert für mich: Das Glück wohnt da, wo ich es nicht erwartet habe, wo es sich zumindest nicht selbstverständlich einstellt, sondern höchstens erhofft wurde. Ja, viele Sätze, die ich lesen konnte, haben mich glücklich gemacht. Und ich finde es wunderbar, immer mal wieder die Erfahrung machen zu können, dass Kinder und Jugendliche mich als ihren Lehrer glücklich machen können – durch ihre Bereitschaft, sich einzulassen, durch ihre offenen und ehrlichen Statements, durch kritische Fragen oder – ja, auch – einfach unbedacht "rausgehauene" Meinungen. Ich lese sehr viel berechtigterweise dunkle Artikel über die Schule in Corona-Zeiten. Aber es gibt auch diese Erfahrungen, das Glück eben dort, wo man es nicht erwartet.
Ich glaube, dass es im Lauf der Arbeit für eine ganze Reihe meiner Schülerinnen und Schüler unverhoffte, überraschende glückliche Einsichten gegeben hat. Denen, die sich bisher bereits abschließend geäußert haben, hat das Buch sehr viel gesagt, einige schrieben mir inzwischen, sie würden es wieder lesen. Ich glaube, dass dies angesichts der geschilderten Umstände nicht unbedingt Erfahrungen sind, die der Kurs erwartet hat, die sich eingestellt haben, weil sich die Leute getraut haben, dem Leben auch mit dieser Facette ins Auge zu sehen. Mithin wohnte das Glück schon irgendwie dort, wo niemand nach ihm gefragt hatte.
Es ist für mich schwer, etwas Repräsentatives aus den Protokollen auszuwählen. Was ich hervorheben möchte, ist, dass einige ihre Eltern einbezogen haben, sodass die Beschäftigung mit der Endlichkeit des Menschen Familienthema war. Es wurde öfter vom hohen Wert der Freundschaft und Liebe geschrieben, durch die schwierige Zeiten besser zu bestehen seien. Ich habe in meinen Reaktionen – ja, ich habe auf jedes Protokoll geantwortet – das dann bestärkt und hervorgehoben, wie viel jemand tut, wenn er einfach da ist, wie viel das bedeutet, und vor allem, dass das eigentlich jeder Mensch tun kann – da sein. Es war manchmal die Rede von Gott, der in den Menschen da ist, nicht fern im Himmel, überall und nirgends; es war die Rede davon, dass wir Menschen dafür sorgen können, dass Gott eine Realität in dieser Welt für die Menschen ist. Und es war in einer Reihe von Äußerungen die Rede davon, dass man keine Angst zu haben brauche, dass das Leben sei, wie es sei, aber man ihm an jedem Tag Genuss und Freude abgewinnen könne. In jeder Woche musste ich an die unübertroffene Szene aus den Peanuts denken; zweimal habe ich sie den Oskar-Protokollen angefügt. Snoopy und Charlie Brown sitzen auf dem Steg, Charlie sinniert darüber, dass wir alle eines Tages sterben würden. Snoopy bestätigt dies, zusammen mit dem kleinen Hinweis: "Aber an allen anderen Tagen nicht." Das ist voller Weisheit. Und ich bin glücklich darüber, dass meine Schülerinnen und Schüler sichtlich Anteil an dieser Weisheit erhalten haben.
Ungeahnte Möglichkeiten der Mitteilung tiefgründiger Gedanken
Ein Glück der besonderen Art bezeugte eine Schülerin in dieser Woche. Sie ist froh, schreibt sie, den Abschluss des Buches nicht in der Schule gelesen zu haben, zu sehr habe sie weinen müssen. Nie im Leben hätte sie das in einer Unterrichtssituation mitgeteilt. Sehr wohl aber hat sie es von zu Hause aus geschrieben. Sie ist nicht die Einzige, für die sich in Zeiten des Distanzunterrichts ganz neue und ungeahnte Möglichkeiten der Mitteilung tiefgründiger Gedanken ergeben haben. Viele Schülerinnen und Schüler haben tolle Aufsätze geschrieben und sich Gedanken gedacht, die im Klassenraum nicht Raum gegriffen hätten. Auch das ist ein Glück, das dort wohnt, "wo niemand nach ihm (ge)fragt" hat. Bei allen Problemen und allem Generve des Unterrichts in dieser Zeit ist dieses Glück für mich auch ein kleiner Teil der Corona-Wahrheit, die erzählt werden muss.
Das Buch ist übrigens noch immer zu haben, man kann es lesen und Oskar, seine Freundin Peggy und Oma Rosa ziemlich hautnah begegnen – und einem Gott, der dem Leidenden in seinen Mitmenschen nahekommt und der als gekreuzigter Gott weiß, wie es ist, wenn man ganz am Ende ist. Wir müssen, um mit Oma Rosa zu sprechen, "nur" dafür sorgen, dass er da ist. Wenn meine Schülerinnen und Schüler davon eine Idee bekommen, bin ich glücklich. Und auch darüber, dass sie bereit sind, sich dem Leben auch angesichts seiner schwierigen Seiten zu stellen.
Das letzte Wort hat dieses Mal derjenige, der im achten Schuljahr gar keinen Bock mehr auf Reli hatte und sich nun ganz gut geschlagen hat: "Mir sind beim Lesen und Arbeiten folgende Gedanken gekommen: dass ich es unterschätzt habe, was ich für ein gutes und fröhliches Leben habe und ich dafür auch sehr dankbar bin."